Das Thema ist weitgehend unerforscht, und dem Landtag in Niedersachsen kommt insofern eine Vorreiterrolle zu: Die DDR-Staatssicherheit, der berüchtigte ostdeutsche Geheimdienst, hat in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts seine Fühler nach Westdeutschland ausgestreckt – und massiv versucht, die politischen Geschehnisse zu beeinflussen, auch in Niedersachsen. Wie ist das passiert? Wer hat da agiert? Was waren die Ziele, welche Mittel wurden verwendet? Vieles wird nicht mehr aufzuhellen sein, denn das erste, was die durch die friedlichen Revolutionäre im Herbst 1989 aufgeschreckten SED-Machthaber veranlasst hatten, war die Vernichtung der Unterlagen der „Hauptverwaltung Aufklärung“, also der Spionage im Westen. Ein Großteil der Akten scheint verloren.

Lesen Sie auch: 

 

Im niedersächsischen Landtag wurde 2015 eine Enquetekommission eingesetzt, und deren Abschlussbericht ist gestern im Plenum noch einmal abschließend gewürdigt worden. Zwar enthält die Untersuchung, die wissenschaftlich begleitet und mit Stasi-Unterlagen gestützt wurde, einige spannende Punkte. Doch in der Debatte waren die Redner aller Fraktionen bemüht, nicht zu sehr ins Detail zu gehen, sondern an der Oberfläche zu bleiben und das Gemeinsame zu betonen. Die Vorsitzende Silke Lesemann (SPD) lobte die konstruktive Atmosphäre in der Kommission, der auch eine Wissenschaftlerin der Stasi-Unterlagen-Behörde, die früheren Bundestagsabgeordneten Hartmut Büttner und Silke Stokar, sowie bis zu seinem Tode der ehemalige Oberstaatsanwalt Hans-Jürgen Grasemann angehörten. Wichtig sei, weiter nachzusehen, wie die Stasi versuchte, „das studentische Milieu, die Parteien und auch Landeseinrichtungen in Niedersachsen auszuforschen“.

Das alte Staatssicherheitsgebäude (Stasi) in Berlin. Foto: Fotolia

Volker Meyer (CDU) hält es für wichtig, die Beratungsstelle für Opfer des SED-Regimes in Niedersachsen, angesiedelt im Innenministerium, weiterhin zu erhalten. Seine Fraktionskollegin Heidemarie Mundlos regte eine „Professur zum Thema DDR-Geschichte an einer niedersächsischen Hochschule“ an und Almuth von Below-Neufeldt (FDP) forderte, die Politik dürfe nie wieder zulassen, dass – wie in der DDR – ein Klima des Misstrauens die Gesellschaft beherrscht. Regina Asendorf (Grüne) sieht es ähnlich. In Ostdeutschland habe es „ein Nebeneinander, kein Miteinander“ gegeben, „Angst, Misstrauen und Hass“ hätten regiert. Ansätze dazu gebe es heute wieder, sogar hierzulande, sagte die Grünen-Politikerin und erwähnte, begleitet von Gemurmel im Plenum, das Verhalten der Autoindustrie in der jüngsten Diesel-Krise.

Leider sind die Inhalte des Abschlussberichts im Landtag nicht zur Sprache gekommen. Beispielsweise die Tatsache, dass die Stasi im Umfeld westdeutscher Spitzenpolitiker aktiv wurde und Dossiers über den Fahrer von Ministerpräsident Ernst Albrecht anlegte. Oder dass die Stasi bei der SPD in Hannover einen jahrelang aktiven Mitarbeiter hatte, der den Streit zwischen Jungsozialisten und SPD-„Kanalarbeitern“ hautnah miterlebte und dies vermutlich auch weitermeldete. Der Mann lernte die politischen Anfänge des späteren Bundeskanzlers Gerhard Schröder in der hannöverschen SPD direkt kennen. Dann gibt es die Spione, die im Innenministerium und beim Verfassungsschutz platziert wurden, die recht vielen Stasi-Mitarbeiter, die sich ausgerechnet in Garbsen bei Hannover angesiedelt hatten und von denen einige wohl bemüht waren, den Fliegerhorst in Wunstorf auszukundschaften.

Klarheit könnte ein Forschungsauftrag bringen

Und es gibt den merkwürdigen Hinweis auf zwei SPD-Landtagsabgeordnete, die 1974 wieder für den Landtag angetreten waren und deren Wahlkampf – teilweise – von der Stasi mitfinanziert wurde. Ob die betroffenen Abgeordneten überhaupt wussten, wer ihnen da so hilfreich zur Seite stand? Ob die Stasi damals gezielt strategisch vorgegangen ist, oder ob sie nur wahllos versuchte, über Mitfinanzierungen irgendwelche Politiker von sich abhängig zu machen? Das sind sehr heikle Fragen, die eine weitere Erforschung – trotz der mageren Datenbasis – auf jeden Fall sinnvoll erscheinen lassen.

1974 hatte es ein knappes Wahlergebnis gegeben, SPD und FDP lagen hauchdünn vor der CDU. Deren Spitzenkandidat Wilfried Hasselmann wurde nicht Ministerpräsident, der Sozialdemokrat Alfred Kubel blieb es. Wenn die Stasi wirklich gezielt Einfluss auf diese Landtagswahl nehmen wollte: Hatte sie vor, einen SPD-Sieg zu sichern? Immerhin hatte der DDR-Geheimdienst zwei Jahre zuvor über einen Stimmenkauf bei CDU-Bundestagsabgeordneten erreicht, dass Willy Brandt Kanzler blieb. Man kann aber noch weiter gehen, denn 1976 hatten bisher unbekannte Überläufer aus der SPD oder der FDP im niedersächsischen Landtag die Wahl von Ernst Albrecht (CDU) zum neuen Ministerpräsidenten durchgesetzt – trotz einer offiziell weiterhin bestehenden SPD/FDP-Landtagsmehrheit. Hatte vielleicht auch bei dieser Entscheidung die Stasi ihre Finger mit im Spiel, wie 1972 im Bundestag? Wenn ja, welchen Zweck verfolgte sie? Hätte oder hatte sie einen Vorteil aus der Kür Albrechts zum Ministerpräsidenten gezogen?

Die Spekulationen bleiben, Klarheit könnte nun ein Forschungsauftrag bringen. Das wäre womöglich eine lohnenswerte Aufgabe für den nächsten Landtag. (kw)