Ist er nun wirklich der Favorit? Jan-Christoph Oetjen (40) aus Sottrum im Kreis Rotenburg/Wümme gehört seit 15 Jahren dem niedersächsischen Landtag an, hat dort einen Namen als Innenpolitiker und wollte jetzt die Ebene wechseln – als Kandidat für das EU-Parlament. Die FDP schreibt für die Europawahlen Ende Mai nächsten Jahres wieder eine gemeinsame Bundesliste, und die Niedersachsen haben maximal einen Platz unter den ersten zehn, also den aussichtsreichen Positionen sicher. Würde es auf Oetjen zulaufen? Gesine Meißner, die bisher aus Niedersachsen als FDP-Frau im Europaparlament sitzt, scheidet aus.

Oetjen während seiner Rede auf dem Parteitag in osnabrück – Foto: kw

Am Wochenende fällt die Entscheidung. Knapp 300 Delegierte und Freunde der FDP haben sich zur Delegiertentagung in Osnabrück getroffen, und zu Beginn des Treffens in der Stadthalle liegt eine merkwürdige Spannung in der Luft. Früher, als die politische Situation in Deutschland längst nicht so aufgewühlt war wie heute, hatte es für solche führenden Positionen immer nur wenige Kandidaten gegeben. Diesmal bewarben sich 26 Niedersachsen dafür, einen Platz auf der Bundesliste (die im Januar aufgestellt wird) zu ergattern. Und für die Spitzenposition, die einzig aussichtsreiche, traten jetzt gleich vier Bewerber an. Früher war es fast die Regel, dass der vom Landesvorstand befürwortete Kandidat auch in der Delegiertenversammlung durchkommt. Aber in heutigen Zeiten, in denen die Parteien – auch die FDP – mit einer wachsend rebellischen Basis zu tun haben, ist das keineswegs mehr sicher. So wirkte Oetjen am Anfang ernst und konzentriert. Man merkte ihm an, dass es schwer werden würde.

Teils meisterhafter, teils skurriler Wettlauf

Dann erlebt die FDP einen teils meisterhaften, teils skurrilen Wettlauf der Bewerber. Als erster meldet sich Hans Altenburg aus Gifhorn zu Wort, der sich als Professor und Diplomat bezeichnet, einst politische Konzepte für Otto Graf Lambsdorff erarbeitet haben will und erklärte, in einer Rechtsanwaltskanzlei zu arbeiten. Dem Landesvorstand ist Altenburg nicht ganz geheuer, und der zuständige Bezirksvorsitzende Björn Försterling weigert sich, ihn vorzuschlagen – es tut dafür eine Vertraute von Altenburg. Die folgende Vorstellung ist schräg – Altenburg gibt an, ein „echter Widerstandskämpfer“ zu sein, einst mitgeholfen zu haben, den georgischen Präsidenten Eduard Schewardnadse „zu beseitigen“ und dessen Nachfolger ebenfalls. Als Anwalt in Gerichtsprozessen sei er „vor 17 geladenen Kalaschnikows“ aufgetreten. Der Kandidat aus Gifhorn bekennt sogleich seine Nähe zu den Geheimdiensten – und sorgt damit endgültig dafür, der totale Außenseiter zu sein. Am Ende erhält er ganze drei Stimmen.

Oetjen spricht von Richtungswahl

Der zweite Redner war im Vorfeld als stark bezeichnet worden, der 28-jährige Rechtsanwalt Niklas Drexler aus Hannover-Langenhagen. Er hatte sich die Unterstützung des Kreisverbandes Hannover und der Jungen Liberalen gesichert, und in einer kämpferischen Rede warnt er „vor Menschenfeinden und Zynikern“, preist seine eigene Leidenschaft an und erwähnt, in jungen Jahren schon im Kanzleramt und in der deutschen Botschaft in Äthiopien gearbeitet zu haben. Auch seine Kinder und Enkel, fügt er hinzu, sollen später „ein Europa in Frieden und Freiheit erleben“. Meinten vorher einige, Drexler könnte für Oetjen gefährlich werden, so sprechen sich am Ende für den 28-jährigen doch nur 26 der 267 Delegierten aus.

Als dritter in der Vorstellungsrunde liegt es dann an Oetjen, die Delegierten zu erreichen – und er schafft es auch mit einer hervorragenden Rede. Er nennt die Europawahl eine „Richtungswahl“ und positioniert die FDP in der Mitte zwischen den Rechtspopulisten mit ihrem Nationalismus auf der einen, den Grünen mit ihrer grenzenlosen Offenheit für Migranten auf der anderen Seite. Es gebe aber einen Mittelweg zwischen Abschottung und Aufnahme, anstelle eines „Europas der Bevormundung“ werbe er für „ein Europa, das Freiräume schafft – und groß ist in den großen, aber klein in den kleinen Fragen“.

Oetjen redet über die Agrarpolitik, über die Innenpolitik und seine Erfahrungen im Landtag, über die nötige internationale Vernetzung der Polizeiarbeit und europäische Zuwanderungsregeln. Starker Applaus zeigt, dass der 40-jährige damit die Anwesenden erreicht. Satte 160 Stimmen bei drei Gegenkandidaten im ersten Wahlgang zeigen, dass Oetjen seiner Favoritenrolle gerecht wird – womöglich begünstigt auch dadurch, dass sein Wechsel nach Europa einen Platz im Landtag freimachen würde, der 53-jährige Thomas Brüninghoff aus der Grafschaft Bentheim dürfte nachrücken.

Überraschungskandidat aus dem Kreis Harburg

Doch die eigentliche Überraschung des FDP-Treffens ist ein anderer, der in der Vorstellungsrunde als letzter auftritt und von dem es vorher hieß, er sei kaum von Gewicht. Der Rechtsanwalt Nino Ruschmeyer aus dem Kreis Harburg zeigt mit einer klugen Rede, wie man sich als „Mann der Basis“ präsentieren kann, ohne den etablierten Kräften – zu denen auch Oetjen zählt – den Kampf anzusagen. Man habe ihn „einen Dorfanwalt aus Winsen“ genannt, sagt er, das stimme aber nicht – er lebe im Dorf Hoopte an der Elbe, und Winsen als benachbarte Stadt sei kein Dorf. Er stehe aber dazu, aus kleinen Verhältnissen zu kommen, habe einst „mit der Bild-Zeitung angefangen“ und sei „aus eigener Anstrengung bei Shakespeare gelandet“, suche stets den Rat der einfachen Leute und wolle als Quereinsteiger zeigen, wie man mit guter praktischer Arbeit glaubwürdig auftreten kann. Das Thema Migration, rät der 37-jährige, hemdsärmlig auftretende Ruschmeyer, würde er am besten aus dem Wahlkampf ausklammern: „Das ist doch nur Wasser auf die Mühlen der Rechten.“ Der Kandidat kommt gut an – und erreicht mit 72 Stimmen souverän einen Achtungserfolg.

Später, als Platz zwei gewählt wird, ist die breite Mehrheit für Ruschmeyer. Obwohl der Anwalt aus dem Dorf bei Winsen kaum Chancen hat auf einen guten Rang auf der Europa-Bundesliste, notieren sich viele FDP-Mitglieder seinen Namen schon mal vorsorglich: Vielleicht kommt man ja auf ihn zurück, wenn die nächste Landtagsliste aufgestellt werden muss. Sein Bezirksvorsitzender Jörg Bode nennt Ruschmeyer schon „meinen Sieger der Herzen“. (kw)