Morgen, am 1. November, wird Niedersachsen 70. Das Rentenalter ist lange erreicht. Was steht uns in 30 Jahren bevor, im Herbst 2046? Dann gehört das Land zu den Hundertjährigen. Der Rundblick wagt, in einer Fiktion, den Blick voraus. Hier der dritte Teil.

Der Schock fuhr den Leuten von der Agrarlobby kräftig in die Glieder, als ein Lebensmittelskandal um Dioxin im Tierfutter 2031 das Kaufverhalten deutlich beeinflusste: Die großen Betriebe der Ernährungswirtschaft in Cloppenburg und Vechta kamen nun massiv in eine Krise. Was sich vorher schon als Trend abzeichnete, verstärkte sich enorm. Die Leute wollten auf einmal kein Fleisch mehr kaufen, und die verpackten Hähnchenschenkel und Schweineschnitzel blieben in den Ladentheken der Supermärkte liegen und vergammelten. Wie konnte das geschehen? Niedersachsen war doch die Wiege der Nutztierhaltung in Deutschland.

 

Noch im Jahr 2010 waren die Zahlen beeindruckend: Mehr als die Hälfte des gesamten deutschen Bestandes an Masthähnchen lebte in Niedersachsen – das waren 36,5 Millionen Tiere. 29,9 Millionen davon wurden im alten Bezirk Weser-Ems geboren, später getötet und verarbeitet – vor allem in den Kreisen Emsland, Cloppenburg und Vechta. Bei der Schweinehaltung ging es zunächst steil bergauf – und dann wieder runter: 1947 gab es in Niedersachsen 425.000 Schweinehalter, die 1,3 Millionen Tiere hielten. 1996 waren es nur noch 32.000 Betriebe, aber die Zahl der Schweine schnellte auf sieben Millionen in die Höhe. Dann kamen immer größere Ställe, immer industriellere Verfahren. Mitte 2016 gab es noch knapp 27.000 Betriebe und 8,4 Millionen Schweine – das waren rund 400.000 weniger Schweine als anderthalb Jahre zuvor. Waren das schon die Vorboten einer Trendumkehr?

Wettbewerb um neue Kreationen aus Gemüse - Ist das die Zukunft?

Wettbewerb um neue Kreationen aus Gemüse – Ist das die Zukunft?

Drei Entwicklungen zeichneten sich dann später rund um das Jahr 2025 ab: Erstens nahm der Export ab, damit auch der Export von Nahrungsmitteln. Programme, die Landwirtschaft in den Entwicklungsländern aufzupäppeln und ihre Selbstversorgung zu stärken, wurden immer erfolgreicher. Der weite Transport von Nahrungsmitteln wurde aufwendiger und teurer, also nicht mehr lukrativ. Zweitens zeigten die vielen Fernsehberichte über Tiere, die auf engstem Raum gehalten werden und leiden, immer mehr Wirkung. Das Bewusstsein der Verbraucher wurde geschärft, die Grünen als politische Kraft nutzten dieses Thema immer stärker in den Wahlkämpfen – und der Handel fühlte sich gefordert, auf eine „tierschutzgerechte Produktion“ zu achten. Drittens erregten immer mehr Mediziner Aufsehen mit der These, zu viel Fleischkonsum bekomme dem Menschen schlecht – und der gegenwärtige durchschnittliche Verzehr von Schweine- oder Geflügelfleisch sei zu hoch.

Da die Sojabohne in Deutschland nicht so gut wächst und ihre Produktion etwa in Südamerika ökologisch hoch umstritten ist, wird hierzulande der Trend zu Gemüseprodukten immer größer – und geschmacklich ähneln viele Variationen längst dem Fleisch. Gemüseanbau wird für viele Bauern, die bisher auf Vieh gesetzt haben, zur Alternative. Die Nahrungsmittelwirtschaft liefert sich einen Wettbewerb um neue Kreationen aus Gemüse. Übrigens auch bei den Getränken: Da der Alkohol als Droge immer stärker in Verruf gerät, nimmt auch der Bierkonsum ab. Die Leute trinken lieber Gemüsesäfte – und die Unternehmen, die diese produzieren, lassen sich immer neue Mischungen und Gewürzbeigaben einfallen.

In Cloppenburg, Vechta und dem Emsland – noch um 2010 boomende Regionen – setzt seit 2040 ein Strukturwandel ein. Betriebe sterben, die Arbeitslosigkeit wächst, Leute ziehen weg. Die CDU, die dort ihre Hochburgen hatte,  verliert an Rückhalt und wird damit landesweit geschwächt. Der Harz hingegen, für den die Landesregierung noch 2020 ein Förderprogramm aufgelegt hatte, gewinnt alte Stärke zurück. Da der Ferntourismus zu teuer und weniger gefragt ist, wollen immer mehr Leute im Harz ihren Urlaub machen und die Natur in den Wäldern erleben. Damit verschieben sich die regionalen Disparitäten, die noch Anfang der 2000er Jahre von einem starken Westen und einem schwachen Osten und Süden ausgegangen waren: Um 2045 herum wird der Süden zur aufstrebenden Region, der Westen braucht jetzt die Unterstützung der Landespolitik. (kw)