Um der Versorgungslücke in der Pflege entgegenzuwirken, sollen Pflegekräften den Ärzten mehr Aufgaben abnehmen dürfen. Das empfiehlt Stefan Etgeton von der Bertelsmann-Stiftung, der gestern bei der Jahrestagung des Landesamtes für Statistik (LSN) sprach. Etgeton machte verschiedene Stellschrauben aus, an denen noch gedreht werden könne, um etwas gegen den drohenden Pflegenotstand zu tun. Arbeitgeber könnten zum Beispiel bessere Arbeitszeitmodelle einführen oder an den Aufgaben der Stellenprofile arbeiten.

Die Politik müsse sich aber verstärkt darum kümmern, die Pflegeberufe aufzuwerten. Das habe nicht unbedingt nur etwas mit der Vergütung zu tun. Dem Pflegepersonal sollten durch gestufte Aus- und Weiterbildungskonzepte neue Perspektiven geboten werden. Außerdem, schlägt Etgeton vor, müssten dem Pflegepersonal neue Kompetenzen zugeschrieben werden. „Da muss die Politik den Ärzten ein Signal geben, dass sich hier etwas ändern muss.“ Der Fachmann von der Bertelsmann-Stiftung brach auch eine Lanze für die Pflegekammer. Er wisse zwar, dass das in Niedersachsen ein heikles Thema sei. Die Pflegekammer sei aber wichtig, weil diese dafür sorge, dass die Qualität stimmt und die Interessen angemessen vertreten werden.

Da muss die Politik den Ärzten ein Signal geben, dass sich hier etwas ändern muss.

Engpass, Versorgungslücke, Notstand – die Begriffe unterscheiden sich, der Befund ist aber derselbe: Es gibt immer mehr Pflegebedürftige bei gleichzeitig zurückgehenden Zahlen beim Pflegepersonal. Zumindest ist das seit Jahren die gängige Einschätzung. Das LSN wollte auf seiner Jahrestagung der Frage nachgehen, ob die amtlichen Zahlen diesen Befund denn auch stützen. Bereits 2012 legte die Bertelsmann-Stiftung dazu einen Pflegereport vor, der auf Grundlage der bekannten Zahlen zur demografischen und zur Arbeitsmarktentwicklung eine Prognose wagte. Seitdem wird die Berechnung der Versorgungslücke immer wieder aktualisiert. Die Erkenntnis: Die Situation wird sich perspektivisch weiter zuspitzen. Bis 2030 werde die Versorgungslücke im Pflegebereich von aktuell 5,4 Prozent auf 7,9 Prozent steigen, sagte Etgeton. Die Versorgungslücke bemisst die Abweichung zwischen dem Pflegebedarf und dem sinkenden Erwerbspersonenpotential.

Großes Problem in den Speckgürtel um die Metropolen herum erwartet

Die Gesundheits-Experten von der Bertelsmann-Stiftung sehen in Zukunft vor allem in den Speckgürteln um die großen Metropolregionen ein großes Problem – etwa in Harburg, Osterholz oder Verden. Aber auch die Region Hannover werde Schwierigkeiten bekommen, warnt der Experte. Die Statistik könne das aktuell nur noch nicht so deutlich zeigen, weil die Stadt Hannover dort in der Region Hannover aufgeht. Auch das LSN stellt fest, dass die regionale Entwicklung weiter stark auseinanderdriftet.

Die Landkreise Emsland, Cloppenburg, Schaumburg, Holzminden und Northeim haben überdurchschnittlich viele Pflegebedürftige über 65 Jahren, berichtete Jenny Gentz, Dezernatsleiterin Soziale Sicherung beim LSN. Die Landkreise Ammerland, Harburg, Osterholz und Osnabrück hingegen besonders wenige. Die Region Hannover habe zu gleichen Teilen viele Bedürftige und viele Beschäftigte im Bereich der ambulanten Pflege. Lüchow-Dannenberg, Verden und Wolfenbüttel hingegen hätten hier zu wenige. Auch in den Pflegeheimen hat Hannover deutlich die meisten Beschäftigten, genauso Hildesheim, Osnabrück und Göttingen. Lüchow-Dannenberg, Holzminden und Gifhorn hingegen haben auch in der stationären Pflege zu wenig Personal.

Dass Fachkräfte eindeutig fehlen, kann auch Henning Schridde von der Bundesagentur für Arbeit bestätigen. Von einem Notstand möchte er zwar nicht sprechen, man habe aber einen „Nachfrageüberhang nach qualifizierten Arbeitskräften“ im Pflegebereich. „Der Markt ist leer“, sagt Schridde. Bei Alten-, beziehungsweise Krankenpflegern kämen laut Arbeitsmarktstatistik auf 100 offene Stellen nur 15 beziehungsweise 43 Fachkräfte, die sich bewerben.

Dabei steigt die Zahl der Pflegebedürftigen in Niedersachsen weiter an. Von 2015 auf 2017 wuchs die Zahl von 317.508 auf 387.293 Pflegebedürftige an. Das habe zum einen mit der demografischen Entwicklung zu tun, sagt Gentz. Es liege aber auch daran, dass durch die Einführung der Pflegegrade im Jahr 2017 mehr Menschen einen Anspruch auf Pflege haben, als zuvor. Es handele sich bei diesem Anstieg also auch um eine statistische Verzerrung, erklärt die Dezernatsleiterin – doch insgesamt es werden mehr.