Der Rundblick zieht eine Halbzeitbilanz für die acht EU-Abgeordneten aus Niedersachsen. Fotos: Waldemar Salesski, CDU, Europäisches Parlament, Jonathan Fafengut, privat, GettyImages/Callan Quinn

Als im Mai 2019 die Abgeordneten des Europäischen Parlaments gewählt wurden, dachte wohl noch niemand daran, dass bald schon eine Pandemie die gesamte Welt in ihren Würgegriff nehmen würde. Das Thema, das zumindest in Deutschland die Europawahl dominiert und den Grünen ein überraschend gutes Ergebnis beschert hatte, war allem voran der Klimawandel. Als die Niedersächsin Ursula von der Leyen (CDU) dann wenig später den Kommissionsvorsitz übernahm, machte sie deshalb auch den Klimaschutz zum großen Thema ihrer Amtszeit und kündigte ihren „Green Deal“ für die EU an. Inzwischen sind seitdem gut zweieinhalb Jahre vergangen, Corona und zahlreiche andere Krisen haben die Europäische Union durchgeschüttelt. Zu Beginn der zweiten Hälfte der Legislaturperiode fragt das Politikjournal Rundblick nach bei den niedersächsischen Europaabgeordneten, wie sich aus ihrer Sicht die Lage in Brüssel darstellt.

Wechselnde Mehrheiten folgen auf Große Koalition

Noch bevor die Pandemie die Art des Arbeitens im Parlament verändert hat, gab es ein anderes Ereignis, das altbewährte Muster aufbrach: Die Europawahl selbst bescherte ein Ende der Großen Koalition aus Sozialisten und Europäischer Volkspartei in Brüssel und Straßburg. Wechselnde Mehrheiten geben seitdem den Ton an. Jan-Christoph Oetjen von der FDP schildert, dass die vergangenen zweieinhalb Jahre von „immer neuer Kompromissbildung“ geprägt gewesen seien – für jeden Bericht habe man neue Mehrheiten finden müssen. Seine Fraktion „Renew Europe“ habe dabei die Rolle als Königsmacher eingenommen, erklärt er gegenüber dem Politikjournal Rundblick. David McAllister (CDU) stellt fest, dass die Entscheidungsfindung dadurch „unübersichtlicher“ geworden sei, er ist allerdings überzeugt: „Gleichwohl ist das Parlament handlungsfähig.“ Gezeigt habe sich das dann in der Not der Pandemie.

Corona macht Parlamentsbetrieb schnell digital

Als im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie Europa erreichte, hat das Virus die Agenda und auch das Agieren des Europaparlaments enorm beeinflusst. Der Parlamentsbetrieb wurde rasch auf digitale Sitzungen und Online-Abstimmungen umgestellt. Jens Gieseke von der CDU berichtet, dass trotz der widrigen Umstände „mit hohem Tempo“ Forschungsgelder freigegeben oder Beihilferegelungen gelockert sowie das digitale Covid-Zertifikat der EU und der EU-Wiederaufbaufonds beschlossen wurden.

Der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange betonte, das Parlament habe „sich intensiv um die Impfstoffstrategie gekümmert und mit dafür gesorgt, dass die Produktion, die damit verbundenen Lieferketten aber eben auch der Export an andere Länder außerhalb der EU sichergestellt werden konnte.“ Langes Fraktionskollege Tiemo Wölken merkte allerdings kritisch an, dass es aus seiner Sicht ärgerlich gewesen sei, dass die EU-Kommission die Verträge mit den Impfstoffherstellern ohne Einbindung des Parlaments geschlossen hat.

Klimaneutralität ist eine der größten Herausforderungen

Als eine der wichtigsten Herausforderungen für die nun noch verbleibenden knapp zweieinhalb Jahre bis zur nächsten Europawahl haben übereinstimmend alle niedersächsischen Europaabgeordneten die anvisierte Klimaneutralität bis 2050 benannt. Allerdings zeigen sich klare Unterschiede bei der Prioritätensetzung. Katrin Langensiepen, Abgeordnete der Grünen, erklärte das europäische Klimagesetz zu einem „prägenden europäischen Erfolg“. Allerdings betonte sie, dass der grüne Wandel sozial gestaltet werden müsse. „Bereits vor der Pandemie war jeder vierte Mensch in der EU von sozialer Ausgrenzung und Armut bedroht. Die Energiepreiskrise hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, gefährdete Menschen zu unterstützen, damit sie nicht noch mehr in Armut rutschen.“

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Auch die Sozialdemokraten Lange und Wölken teilen diese Einschätzung. „Transformation kann nur gelingen, wenn damit ein sozialer Ausgleich verbunden ist. Der Green Deal muss auch ein Social Deal sein“, sagte Lange und Wölken fügte an: „Leitlinie für mich ist der Grundsatz, dass es keine Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit gibt – eine Transformation auf den Schultern des Einzelnen kann nicht funktionieren und ist ungerecht.“

Andere Sorgen treiben derweil den Freidemokraten Oetjen um. Er fordert eine Mobilitätswende in Europa, die Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit verbindet. Deshalb richtet er den Blick etwa auf den Ausbau des europäischen Verkehrsnetzes und der Elektro-Infrastruktur, er setzt auf Wasserstoff als Antriebsstoff auch für Schienenverkehr und für den nachhaltigen Flugverkehr. Gieseke von der Union fordert in diesem Zusammenhang Technologieoffenheit für den Antrieb von Autos und warnt davor, einseitig auf die Elektromobilität zu setzen.

Pandemie und Klimakrise überschatten Brexit

Angesichts von Pandemie und Klimakrise scheint der Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus der EU geradezu ein randständiges Thema geworden zu sein. Lange, der Vorsitzender des EU-Handelsausschusses ist, erkennt inzwischen sogar einen positiven Effekt des Brexits: Dadurch sei nämlich ein „durchaus interessanter Prozess der Selbstvergewisserung und Einigkeit unter den verbliebenen Mitgliedstaaten entstanden“, stellt er fest. Doch die Details bleiben konfliktträchtig.

McAllister erklärte dem Rundblick, er hoffe, dass die beiden Parteien „bald eine einvernehmliche Lösung für die Umsetzung des Protokolls zu Irland und Nordirland finden.“ Der EU-Außenpolitiker blickt zudem mit Sorge auf die momentanen Konfliktherde: „Die aktuellen Ereignisse in unserer Nachbarschaft zeigen, dass es nicht weniger, sondern mehr gemeinsames auswärtiges Handeln der Europäischen Union braucht.“ Viola von Cramon, EU-Außenpolitikerin der Grünen, sorgt sich vor allem um die Situation in Belarus. „Fast wie am Fließband werden Menschen eingesperrt, gefoltert und verurteilt“, sagt sie dem Politikjournal Rundblick.

Zerwürfnisse gibt es derweil nicht nur in der Nachbarschaft, sondern in der EU selbst. „Das Verhalten Polens und Ungarns ist inakzeptabel und als EU müssen wir deutlich machen, dass die europäischen Werte nicht zur Diskussion stehen oder nach eigenem Belieben interpretiert werden können“, sagt die CDU-Politikerin Lena Düpont. Dass die EU zu zögerlich und zu spät auf die Verstöße gegen die Grundprinzipien wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit reagiert habe, wirft die Grünen-Politikerin von Cramon explizit der Kommissionspräsidentin von der Leyen vor. „Ein Machtwort der Kommissionspräsidentin ist hier längst überfällig“, sagt sie in Bezug auf das Handeln des ungarischen EU-Kommissars Várhelyi, der in ihren Augen ein treuer Diener von Präsident Viktor Orbán sei. „Bleibt es weiter aus, muss man leider die Prinzipientreue der Europäischen Kommission als Ganze in Frage stellen“, so von Cramon.

Ärger über Ursula von der Leyen ist groß

Harsche Kritik an der „Hüterin der Verträge“. Doch wie fällt insgesamt das Urteil über die ranghöchste Niedersächsin in Brüssel aus? „Die Kommissionspräsidentin von der Leyen hat eine herausgehobene mediale Rolle. Was die inhaltliche Stärke ihrer Beschlüsse angeht, sieht das leider anders aus“, urteilt der FDP-Politiker Oetjen und fordert mehr Einsatz für Rechtsstaatlichkeit, in der Migrationspolitik sowie beim Erreichen der Klimaziele. Die Grünen-Abgeordnete Langensiepen nennt von der Leyen eine „Meisterin im Produzieren von Überschriften“, zeigt sich aber schwer enttäuscht von ihrer Klima- und Sozialpolitik, vor allem die sogenannte Taxonomie, wodurch Atomenergie als grün klassifiziert wurde, findet sie „kontraproduktiv“.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ©EU/Etienne Ansotte

Positiv bewerten allerdings sowohl Langensiepen als auch von Cramon von der Leyens Corona-Politik, die Impfstoffbeschaffung und den EU-Aufbauplan, der erstmals zu einer gemeinsamen Schuldenaufnahme der EU-Mitgliedstaaten geführt hat. Eine „ernüchternde“ Bilanz zieht der Sozialdemokrat Wölken. Er fordert mehr Einsatz für die Rechtsstaatlichkeit, ein Initiativrecht für das EU-Parlament und eine Änderung des EU-Wahlrechts, damit die Rolle der Spitzenkandidaten rechtlich abgesichert wird. Wölkens Fraktionskollege Lange spricht zwar auch von dem „Makel“, das von der Leyen nicht als Spitzenkandidatin, sondern durch einen Deal der Staats- und Regierungschefs ins Amt gekommen ist. Der Sozialdemokrat erkennt allerdings an: „Sie hat dann im Amt die zentralen Herausforderungen für die europäische Union richtig erkannt und wichtige Themen auf die Agenda gesetzt und Vorschläge gemacht.“

Auch von ihren Parteifreunden von der Union erhält die Kommissionspräsidentin kein uneingeschränkt positives Zeugnis. Bisher sei es ihr gelungen, die Kommission „ruhig und geordnet“ durch schwierige Zeiten zu steuern, meint Lena Düpont. Ihre geo- und klimapolitischen Ziele seien aber „sehr ambitioniert“ und das werde „nicht einfach werden“. Der Christdemokrat Gieseke kritisiert die Dominanz des sozialdemokratischen Vizepräsidenten Frans Timmermans innerhalb der Kommission und fordert nachdrücklich einen Mittelstandsbeauftragten für die EU. Und David McAllister resümiert: „Das Entscheidende ist: Europa hat zusammengehalten. Das ist auch ein maßgeblicher Verdienst von Ursula von der Leyen.“