Das VW-Werk Emden ist auf neueste Produktionstechnik umgestellt worden I Foto: Scheffen, Volkswagen AG

Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat kürzlich in einem Interview mit dem Handelsblatt den Vorwurf geäußert, dass Deutschland einen „Industrie-Fetisch“ hat. „Sie können mir doch nicht erzählen, dass das Zusammenschrauben von Autos und Kochen von Stahl zum deutschen Selbstverständnis passt, an der Spitze der weltwirtschaftlichen Errungenschaften zu stehen“, sagte der Professor von der Columbia-Universität in New York und meinte: „Es gibt andere Sektoren, in denen die deutsche Wirtschaft ihre Ressourcen besser verwenden könnte: Dienstleistungen, Forschung, die Suche nach neuen Technologien.“ Meine erste Reaktion darauf war: Was für ein Quatsch. Da kommt schon wieder ein Wirtschaftsweiser aus dem Ausland und will der viertgrößten Volkwirtschaft der Welt erklären, wie wir unseren Laden zu schmeißen haben. Doch nachdem die erste Empörung verflogen war, kam ich schließlich zur Einsicht: Im Kern hat Tooze durchaus Recht. Die deutsche Wirtschaft muss ihre wenigen Ressourcen angesichts von Fachkräfte-, Material- und Energiemangel effektiver einsetzen. Das werden die Unternehmen aber schon alleine hinbekommen – aber nur dann, wenn der Markt so funktioniert, wie er soll. Und das sicherzustellen, wird für die Politik die Mammutaufgabe des Jahres 2023.

Eine ganz kurze Bestandsaufnahme: Weil wir mithilfe von vergleichsweise günstigem russischem Erdgas veraltete Produktionsmethoden viel zu lange am Leben erhalten haben, sind wir in Deutschland beim Umbau zur klimaneutralen Wirtschaft etwas spät dran. Denn es stimmt, was Tooze sagt. Stahlkochen an sich ist nicht der große deutsche Beitrag, um die Menschheit voranzubringen. Wenn aber die Salzgitter AG zum Trendsetter für die Produktion von CO2-neutralem Stahl wird, sieht das schon anders aus. Der Name „Salcos“, unter dem die Stahlkocher aus Südniedersachsen ihre Klimainitiative vermarkten, ist inzwischen auch international eine Marke und Sinnbild der grünen Transformation. Die Kerntugend der deutschen Industrie ist es schließlich nicht, billiger als die Konkurrenz zu produzieren, sondern hochwertiger und fortschrittlicher. „Erkenne dich selbst!“ lautete die vielzitierte Inschrift des antiken Apollo-Tempels von Delphi. Vielleicht sollte man diesen Spruch auch über den Eingangstüren der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten in Deutschland anbringen.

Grüne Technologie allein bringt uns nicht durch die Krise

Doch mit grüner Fortschrittstechnologie alleine wird Deutschland nicht durch diese und alle weiteren Krisen kommen. In der Corona-Pandemie haben wir sehr deutlich gesehen, wie fragil die meisten Liefer- und Produktionsketten sind. Und wer noch mehr über dieses Thema erfahren möchte, muss sich nur das Drama rund um die SKW Stickstoffwerke Piesteritz anschauen. Das Chemieunternehmen aus Wittenberg hatte im Herbst wegen der hohen Energiekosten die Produktion heruntergefahren. „Gut so!“, könnte man mit Adam Tooze sagen. Warum sollte Deutschland auch seine begrenzten Ressourcen verschwenden, um Ammoniak und Harnstoffe herzustellen? Doch wie immer deutlicher wird, ist so ein Rohstoffhersteller nur der erste Dominostein einer langen Produktionskette, die bei der ersten größeren Störung zusammenbricht. Das dort hergestellte Ammoniak fehlte dann nämlich bei der Produktion von Kunststoff, der wiederum für die Auto- und Elektroindustrie benötigt wird. Die Firma Wittenberg-Gemüse hatte zu wenig Stickstoff-Düngemittel für seine Felder und Gewächshäuser. Und dann hat die Produktionsdrosselung bei der SKW auch die Adblue-Krise verschärft. Denn die Herstellung des Dieselzusatzstoffs, ohne den weder Lastwagen noch Landmaschinen fahren können, ist ohne Ammoniak nicht möglich. Die Vorstellung, dass Deutschland eine Hightech-Nation ohne Industrie sein könnte, ist Science Fiction.

Deutschland braucht wieder mehr Grundstoffproduktion

Wir benötigen hierzulande oder zumindest in der EU eher mehr als weniger Grundstoffproduktion – nicht nur für die Industrie, sondern auch für die Forschung. Die hannoversche Quantencomputerentwicklung im „Quantum Valley Lower Saxony“ zum Beispiel ist auf Glas aus China angewiesen, ohne dass die praktische Forschung stillstehen würde. Den Sand, der für die Glasherstellung benötigt wird, gibt es zwar grundsätzlich auch in Deutschland. Doch für einen Glashersteller würde sich das betriebswirtschaftlich nicht rechnen. Mit den Bauteilen für Solarmodule und Windkraftanlagen ist es dasselbe. Auch hier wurde die Produktion aus Kostengründen aus Norddeutschland outgesourct. Da kann man von Planwirtschaft und staatlichen Subventionen halten was man will. Im Interesse der niedersächsischen Wirtschaft ist diese Entwicklung nicht. Die Rechnung dafür bekommen wir in den nächsten Monaten serviert. Denn je länger der Aufbau der Erneuerbaren Energien dauert, umso länger muss der Staat den Schaden durch die Energiepreisbremse in Grenzen halten.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist gut, dass es die Preisbremse gibt. Aber ich frage mich schon, warum für diesen Abwehrschirm plötzlich 200 Milliarden Euro da sind, wenn wir vor ein paar Jahren nur einen Bruchteil davon gebraucht hätten, um Deutschland als Vorreiter für klimafreundliche Energietechnik zu etablieren. Zum Glück wird der Traum von einem Niedersachsen, das bei grünen Innovationen zur Weltspitze gehört, mittlerweile auch in der Landesregierung geträumt. Von Olaf Lies oder von Robert Habeck – vermutlich sogar von beiden – wird immer wieder gern betont, dass es für die Lösung unserer derzeitigen Energieprobleme keine Blaupause gibt. Das ist richtig. Und deshalb wünsche ich mir für 2023: Hoffentlich bewahren unsere Politiker die Hemdsärmeligkeit, die wir beim Bau des LNG-Terminals in Wilhelmshaven gesehen haben. Für eine erfolgreiche Energiewende und Transformation braucht es jetzt klare Ansagen, weniger Runde Tische und noch mehr vorzeigbare Ergebnisse.

Die Speicher- und Verdampfungseinheit (FSRU) Höegh Esperanza ist am LNG-Terminal in Wilhelmshaven eingetroffen. | Foto: N-Ports