Hauke Jagau (60), Präsident der Region Hannover, scheidet zum Monatsende nach 15 Jahren aus dem Amt. Der Sozialdemokrat sieht großen Reformbedarf in der Gesundheitspolitik – und hat die Vorzüge einer Kooperation von SPD und CDU schätzen gelernt. Jagau äußert sich im Interview mit dem Politikjournal Rundblick. 

Rundblick-Redakteure Niklas Kleinwächter und Klaus Wallbaum im Gespräch mit Hauke Jagau, Präsident der Region Hannover.

Rundblick: Als Regionspräsident sind Sie auch verantwortlich für mehrere große Krankenhäuser im Raum Hannover. In der Corona-Zeit und schon vorher haben sich die Probleme zugespitzt. Was läuft falsch in der Gesundheitspolitik in Deutschland?

Jagau: Noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie hat Gesundheitsminister Jens Spahn innerhalb kürzester Zeit 19 Gesetze mit Krankenhausbezug verabschieden lassen, die das gesamte Krankenhauswesen durcheinandergewirbelt haben. Nehmen wir zum Beispiel die Personaluntergrenzen-Verordnung. Die Vorgabe von Mindestumfängen bei den Pflegekräften hat dazu geführt, dass Notfälle in Deutschland zum Teil nicht mehr behandelt und Patienten stattdessen durch die Gegend gefahren werden. Im ersten Jahr hat das noch funktioniert und schien ein Erfolgsmodell zu sein, weil die Kliniken Personal aus anderen Bereichen abgezogen haben, um die Anforderungen in den Notfallstationen erfüllen zu können. Seit die Untergrenzen in allen Stationen gelten, klappt das hinten und vorne nicht. Die Kliniken würden ja Personal einstellen – aber es gibt die Leute einfach nicht auf dem Markt.

Rundblick: Gibt es noch weitere Mängel?

Jagau: Ein anderes Beispiel ist die Abkoppelung der Personalkosten von den Erstattungskosten. Die Krankenkassen bezahlen auf diese Weise nur Fachkräfte und keine Servicekräfte. Das heißt zum Beispiel, dass in den Kliniken wieder ausschließlich examinierte Pflegekräfte das Mineralwasser ans Bett bringen müssen, weil Servicekräfte von den Kassen nicht bezahlt werden. Selbst das Krankenhaus-Management muss irgendwie mit erwirtschaftet werden, weil es durch die Erstattungen nicht abgedeckt ist. Dazu kommt die ständig wachsende Bürokratie. Von den eingesetzten Fachkräften werden detaillierte Nachweise über die Qualifikationen gefordert. Und es fehlt die Zeit, die Gesetze vor Ort umzusetzen. Kaum ist ein Gesetz in Kraft, glauben alle, dass es ab sofort genauso vor Ort funktioniert.

Studie: 85 Prozent der deutschen Krankenhäuser schließen 2021 defizitär ab

Rundblick: Wie kann es besser werden?

Jagau: Nach einer Studie von Roland Berger werden 85 Prozent der deutschen Krankenhäuser für das Jahr 2021 defizitär abschließen. Das werfe ich der bisherigen Gesundheitspolitik vor: Es werden Vorgaben gemacht, die im Ergebnis dafür sorgen, dass nur ein Teil der Kliniken auf Dauer weiter wird bestehen können. Es fehlt zudem eine klare Linie. Vor Ort kämpft die Politik um den Erhalt kleiner Häuser. Die Politik auf Bundesebene sorgt dafür, dass nur noch große Kliniken bestehen können. Wir haben einen ungeregelten, ungesteuerten Ausleseprozess. Es fehlt ein bundesweites Konzept, das festlegt, wo welche Krankenhausversorgung gebraucht wird. 

Rundblick: Aber verantwortlich für die Krankenhausplanung sind die Länder. Geschieht im Land Niedersachsen nicht genug in diese Richtung?

Jagau: Eigentlich ist es so gedacht, dass die Länder die Investitionen tragen, die Kassen die Betriebskosten. Seit mehr als 30 Jahren ist die Krankenhausfinanzierung durch das Land nicht auskömmlich. Wir haben einen riesigen Investitionsstau. Die fehlenden Summen gehen in die Milliarden. Was passiert nun? Zum Teil finanzieren die Krankenhausträger, zum Teil stemmen die Krankenhäuser Investitionen aus eigener Kraft, wo sie Effizienzgewinne erwarten. Die Kassen beschweren sich darüber, dass sie so Investitionen indirekt mitfinanzieren. Allerdings erwarten sie umgekehrt modernste Standards und Geräte in der Behandlung. Zudem weigern sich die Krankenkassen immer häufiger, erbrachte Leistungen zu bezahlen, weil der medizinische Dienst im Nachhinein feststellt, eine stationäre Behandlung wäre nicht notwendig gewesen. Stellen Sie sich etwa vor, ein 75-Jähriger wird nachts mit Übelkeit in die Notaufnahme gebracht und aufgenommen. Am Ende der Untersuchung stellt sich heraus, dass er keine ernste Erkrankung hat. Aber das weiß man erst nach der Diagnose. Und wenn der Patient abgelehnt wird und nachts stirbt, kommt die Staatsanwaltschaft. Allein für das Klinikum Region Hannover haben die Kassen Leistungen in Höhe von 10 Millionen Euro strittig gestellt, weil sie sie als nicht notwendig eingestuft haben. Die Krankenhäuser erleben ein ungeheures Misstrauen, wir befinden uns in einem Abrechnungskampf.

Bund-Länder-Arbeitsgruppe sollte sich über Investitionen absprechen

Rundblick: Noch einmal gefragt: Was sollte der nächste Bundesgesundheitsminister tun?

Jagau: Wir brauchen eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Der Bundesgesundheitsminister sollte sich mit den Gesundheitsministern der Länder verständigen, welche Bedarfe deutschlandweit absehbar sind, wie Grundversorger, Schwerpunktversorger und Maximalversorger zu verteilen sind und wo schwerpunktmäßig investiert werden soll. Das ist viel besser als die Förderung nach dem Gießkannenprinzip, wie wir sie derzeit erleben. Anhand eines nachvollziehbaren Konzepts kann man besser argumentieren, wenn es um die Schließung oder Zusammenlegung von Standorten geht. Für medizinische Leistungen braucht man bestimmte Mengengerüste. Alle wünschen sich eine wohnortnahe Geburtsklinik. Mit weniger als 1000 Geburten im Jahr kann so eine Station aber nicht kostendeckend arbeiten. Tatsache ist: Je mehr Betten, je besser die Ausstattung der Kliniken und je mehr Erfahrung das medizinische Personal hat, desto besser ist der Patient dort aufgehoben. Leider wird das von vielen, die so vehement für den Erhalt ihres kleinen alten Krankenhauses im Ort kämpfen, übersehen. Man könnte dann fast sagen, dort gilt das Prinzip: Lieber schlecht versorgt werden in der eigenen Gemeinde als gesund werden im Nachbarort.

Rundblick: Die Region Hannover hatte das größte Gesundheitsamt Niedersachsens in der Corona-Zeit. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Jagau: Früher waren die Gesundheitsämter nur ab und an mal im Fokus der Aufmerksamkeit. Das ist mit Corona radikal anders geworden. Ich vermute, die Nachwirkungen der Corona-Pandemie und die besondere Aufmerksamkeit auf die Gesundheitsämter werden wir noch mindestens ein Jahr lang erleben. Corona wird zunehmend eine Pandemie der Ungeimpften werden.

Rundblick: Sind Sie für eine Impfpflicht?

Jagau: Ich bin für eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, die im Kontakt mit Menschen stehen, die ein höheres Erkrankungs- und Sterberisiko haben. Altenpfleger etwa, Mitarbeiter in Krankenhäusern oder auch in Fitness-Studios – da gibt es auch einen sehr nahen Kontakt. Wer hier beschäftigt ist, sollte sich impfen lassen müssen. Was kaum bekannt ist: Die Masern-Impfpflicht für Grundschullehrer gibt es längst. Da beschwert sich niemand über eine unzulässige Freiheitsbeschränkung.

„Es gibt heute ein viel besseres Miteinander als vor 20 Jahren, als sich Landkreis und Landeshauptstadt noch gegenüberstanden.“

Hauke Jagau, scheidender Präsident der Region Hannover

Rundblick: Seit 15 Jahren stehen Sie an der Spitze der Region Hannover, die vor 20 Jahren aus der Landeshauptstadt und den sie umgebenden Landkreis Hannover gebildet wurde. Hat sich diese Konstruktion bewährt?

Jagau: Auf jeden Fall. Wir haben eine andere Kostenverteilung als früher, die Zusammenarbeit hat sich verändert. Für Krankenhäuser, Sozialkosten und Berufsbildenden Schulen etwa kommt die Region auf. Es gibt heute ein viel besseres Miteinander als vor 20 Jahren, als sich Landkreis und Landeshauptstadt noch gegenüberstanden. Ein Vorbild für andere Regionen? Ja, das wäre möglich in Gebieten mit einem klaren Zentrum. Im Raum Braunschweig mit den drei großen Städten Braunschweig, Wolfsburg und Salzgitter kann man das Modell nicht einfach ausrollen.

Rundblick: In den vergangenen fünf Jahren hatten wir eine Kooperation von SPD und CDU in der Regionsversammlung. Vorher gab es Rot-Grün. Wie bewerten Sie die Unterschiede?

Jagau: Ich habe eine rot-grüne Sozialisation – als Mitarbeiter in der rot-grünen Landesregierung unter Gerhard Schröder, als Bürgermeister in Laatzen und später in der Region. Die Kooperation mit den Grünen war anstrengender als die Große Koalition in der Region Hannover. Die Grünen, vor allem die jüngeren, deklarieren für sich einen moralischen Absolutheitsanspruch und erkennen nur schwer an, dass andere auch lautere Absichten haben. Je weniger die Bereitschaft zu Toleranz und Kompromiss da ist, umso schwieriger wird es. Das war mit der CDU deutlich entspannter. Und bei den großen Krisen, die in den vergangenen Jahren zu bewältigen waren, hat die Große Koalition auf Bundesebene auch dem Land gutgetan.