Ist es der Schock, der vielen christdemokratischen Funktionsträgern nach der schmachvollen Niederlage bei der Bundestagswahl noch in den Gliedern sitzt? Oder hängt die Zurückhaltung, die man derzeit im Gespräch mit führenden Parteivertretern in Niedersachsen spürt, eher mit der Unübersichtlichkeit der Lage zusammen? Niemand weiß es so genau.

Foto: CDU, Steffen Roth / Montage: cwl

Tatsache ist aber: Die Spitze der Landespartei hat sich Schweigen auferlegt, sobald es um Empfehlungen zu der Frage geht, wer künftig neuer Vorsitzender der CDU werden soll. Drei Kandidaten stehen auf dem Tableau: Friedrich Merz (66) aus dem Sauerland, Norbert Röttgen (56) aus dem Rheinland und Helge Braun (49) aus dem hessischen Gießen. Die 443.000 CDU-Mitglieder bundesweit, davon knapp 60.000 in Niedersachsen, sollen ihre Stimme abgeben – entweder online oder schriftlich per Brief. Am 17. Dezember, eine Woche vor Heiligabend, soll das Ergebnis der ersten Runde feststehen. Dass jemand mit mehr als 50 Prozent vorn liegt? Das wäre der Wunschtraum der Politstrategen in der CDU.

„Aufs falsche Pferd gesetzt?“: Bernd Althusmann unterstützte Armin Laschet

Was die Kommentierung der aktuellen Lage angeht, gibt es für die engere CDU-Landesführung um Bernd Althusmann gleich mehrere Gründe zur Vorsicht. Zweimal, als es um den Parteivorsitz ging und um die Kanzlerkandidatenfrage, hatte Althusmann 2020 und 2021 in den Parteigremien keinen Hehl daraus gemacht, dass er Armin Laschet befürwortet. Manche in der CDU kreiden ihm das bis heute an, weil in der Runde der niedersächsischen CDU-Kreisvorsitzenden eine andere Ansicht vorgeherrscht habe. So war es auf jeden Fall Mitte April, als sich in einer internen Sitzung von Landesvorstand und Kreisvorsitzenden eine breite Stimmung für Markus Söder als nächsten Kanzlerkandidaten abzeichnete. Althusmann blieb damals auf Laschets Seite. Einige sagen heute, er habe wohl „auf das falsche Pferd gesetzt“.

Aber konnte er die folgenden Pannen erahnen? Was Friedrich Merz angeht, gilt Althusmann schon seit Jahren als jemand, der die rhetorischen Qualitäten des Sauerländers schätzt und ihm durchaus wohlgesonnen ist. Mutmaßungen allerdings, Althusmann hätte in diesen Tagen Merz seine Unterstützung signalisiert, werden in der CDU nicht bestätigt. Allerdings hat Merz aktuell wiederholt Althusmann erwähnt, ebenso die Vize-Bundesvorsitzende der CDU, Silvia Breher aus Cloppenburg. Das wird intern als kluger Schachzug gewertet, sich die Sympathie der Niedersachsen-CDU zu sichern.

Dossier: Die CDU nach der Bundestagswahl

Bei der Bundestagswahl 2021 hat die Union ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren. Was bedeutet das nun für das weitere Vorgehen der Christdemokraten? Die Landtagswahl in knapp einem Jahr wirft derweil schon ihre Schatten voraus: Wen schickt die Niedersachsen Union ins Rennen? Und wer muss darüber entscheiden? Dossier ansehen (RB+)

Umgekehrt achtet die Führung der Niedersachsen-CDU in diesen Tagen peinlich darauf, dass sich möglichst kein führender Politiker zu früh festlegt. Das liegt zum einen an der Ungewissheit, die mit der Mitgliederbefragung einhergeht. Als es Anfang 2021 um den CDU-Bundesvorsitz ging, waren die 1000 Delegierten des Bundesparteitags gefordert. Diese zu beeindrucken und zu überzeugen, erschien noch vergleichsweise leicht – man konnte Gespräche führen, Zusagen machen, regionale Bündnisse schmieden. Wenn es jetzt um eine Mitgliederbefragung geht, sieht man bei einigen CDU-Funktionären derzeit Stirnrunzeln. „Wir kennen viele unserer Mitglieder doch gar nicht“, sagt einer, der ungenannt bleiben will.

Dass sich bei vielen Funktionsträgern der CDU in mehreren Kreisverbänden eine Pro-Merz-Stimmung breit macht, ist bekannt – und auch nicht neu. Aber wie ticken die einzelnen Mitglieder? Teilen sie die Einschätzung der Funktionsträger? Oder macht sich am Ende der Umstand bemerkbar, dass die Mitgliedschaft der Partei viel älter und männlicher ist als die CDU-Wählerschaft? Sitzen da alte weiße Männer in ihren Wohnzimmern und hegen einen Groll gegen „die da oben“? Oder halten womöglich viele gar nichts von einem Mitgliederentscheid und boykottieren diesen? Das indes wäre für die CDU ein Desaster.

„Bei mir in der Gegend erwarten viele Mitglieder eine starke Führung und eine gute Teambildung. Beides ist Merz mit seinen jüngsten Auftritten gut gelungen.“

Enak Ferlemann

Gerade in ländlichen Gegenden, vom Emsland im Westen über das Bremer bis zum Hamburger Umland, sind nach allgemeiner Einschätzung vieler CDU-Funktionsträger die Merz-Anhänger stark. Einer von ihnen äußert sich offen, der Vorsitzende des Bezirksverbandes Elbe-Weser aus Cuxhaven, Enak Ferlemann (MdB): „Bei mir in der Gegend erwarten viele Mitglieder eine starke Führung und eine gute Teambildung. Beides ist Merz mit seinen jüngsten Auftritten gut gelungen – auch wenn viele ihm die Hinwendung zu sozialen Fragen und die Einbindung anderer Personen zunächst gar nicht zugetraut hatten.“ Ein anderer, der nicht genannt werden will, meint: „Für den überzeugenden Auftritt als Oppositionsführer ist jemand nötig, der seine Botschaften einfach und nachvollziehbar ausdrücken kann – und dynamisch auftritt. Das kann Merz wohl am besten.“

CDU-Vorsitz: Viele halten Kandidaten Helge Braun für chancenlos

Und was ist mit Röttgen und Braun? Aufmerksam wurde registriert, dass der Staatsminister im Kanzleramt, Hendrik Hoppenstedt aus Burgwedel (Region Hannover), seinen Ruf nach „Kandidaten nicht nur aus NRW“ just zu der Zeit veröffentlichte, als Kanzleramtsminister Helge Braun sich zur eigenen Kandidatur für den Parteivorsitz aufraffte. Es heißt, dies sei ein Zufall gewesen und keineswegs ein Zeichen für eine etwaige Nähe von Hoppenstedt zu Braun, die eine Folge des beruflichen Umfeldes sein könnte. Der Auftritt des bisherigen Kanzleramtsministers, der einerseits ruhig und nachdenklich, andererseits aber wenig angriffslustig und zuspitzend erscheint, könnte für diesen ein Nachteil sein – wenn die CDU-Mitgliedschaft von der Sehnsucht nach Attacke auf die künftige Ampel-Regierung getrieben sein sollte. Viele sehen das so und halten Braun nur „für das letzte Aufgebot von Angela Merkel“ und damit für chancenlos.

Röttgen hingegen, der seine Anhängerschaft wohl vor allem in den vom liberalen Bürgertum geprägten größeren Städten rekrutierten kann, Göttingen, Braunschweig, Hannover, Osnabrück und Oldenburg, wird als „wenig volksnah“ beschrieben. Auch in den Reihen seiner eigenen Anhängerschaft wird ihm angekreidet, er gefalle sich in der eigenen Intellektualität und sei schon wegen seiner Ausdrucksweise nicht geeignet, die einfachen Leute zu erreichen. Das ist eine harte Kritik in einer Zeit, in der viele Politologen und Meinungsforscher dringend an die CDU appellieren, die Erneuerung für ein neues sozialpolitisches Profil zu nutzen, die Belange der Arbeitnehmer und ihrer Familien wieder in den Mittelpunkt zu rücken und damit verunsicherte Wählerschichten der Mitte wieder zurückzugewinnen. Erst kürzlich hatte Matthias Jung von der „Forschungsgruppe Wahlen“ dazu eine bemerkenswerte Analyse veröffentlicht.

Für die Niedersachsen-CDU ist die Frage, wer die CDU demnächst führt, enorm wichtig. Der Wahlkampf zur Landtagwahl am 9. Oktober 2022, der im August und September nächsten Jahres durchstarten wird, ist sicher geprägt von der Frage, wie gut oder schlecht die neue Bundesregierung ihre Aufgabe meistert – und wie schnell und sicher CDU und CSU dann ihre neue Oppositionsrolle im Bund gefunden haben. Nichts wäre für den Ministerpräsidentenkandidaten Bernd Althusmann schlimmer als ein neuer CDU-Chef, der in seiner neuen Aufgabe enttäuscht oder es nicht schafft, die verschiedenen Strömungen in der Partei zu vereinen. Egal, wer es am Ende sein wird.