Der Untertitel „Erinnerungen“ belegt, wie man das gestern in Hannover öffentlich vorgestellte Buch von Renate Jürgens Pieper (SPD) eigentlich verstehen soll: als Memoiren einer Frau, die über Jahrzehnte die Landespolitik mitgestaltet hat – erst in Niedersachsen, dann in Bremen. Erst bei der SPD, dann bei den Grünen, später dann wieder bei der SPD. Es ist eine Frau, die aus kleinen Verhältnissen kam, in einer Braunschweiger Arbeitersiedlung groß geworden ist, erst Lehrerin und dann politisch aktiv wurde. Sie hat eine wichtige Botschaft, die viele mit diesem Lebensweg eint, sie will möglichst allen die gleichen Bildungs- und Aufstiegschancen ermöglichen. Auch wer von ganz unten kommt, soll mit Fleiß und Beharrlichkeit nach ganz oben gelangen können. Sie will Hürden, Hemmnisse und Standesdünkel überwinden.

Renate Jürgens-Pieper bei der Buchvorstellung mit Landtagsvizepräsident Bernd Busemann (links) – Foto: MB.

Das ist der eine Teil des 387 Seiten starken Werkes. Aber ein politisches Buch kann noch eine andere Bedeutung haben, wenn man die Umstände und den Zeitpunkt der Veröffentlichung anschaut – und die Tatsache berücksichtigt, dass einige Akteure immer noch mitmischen. Für Jürgens-Pieper gilt das nicht, die 66-Jährige lebt im Ruhestand. Aber eine Figur, mit der sie einige Zeit eng zusammengearbeitet hat, wird in dem Buch schonungslos beschrieben – garniert mit vielen intimen Einblicken in den Alltag der Regierungsarbeit. Es ist Sigmar Gabriel, der von 1999 bis 2003 Ministerpräsident von Niedersachsen war – also gewissermaßen „Vorgesetzter“ von Jürgens-Pieper, seiner damaligen Kultusministerin. Beide, das spürt man, verbindet keine große Nähe. Und Jürgens-Pieper will ihre Kritik am Geltungsdrang und an der Sprunghaftigkeit Gabriels nicht nur rückwärtsgewandt verstanden wissen: „Ich rede also nicht von überwundenen Entwicklungsproblemen eines jungen Politikers. Ich rede von Defiziten im politischen Handeln, mit denen man das Vertrauen der Weggefährten ebenso wie der Wähler dauerhaft verliert.“

Diese Sätze erscheinen heute, da völlig offen ist, ob der Bundesaußenminister, der zwischenzeitlich als Parteichef der mächtigste Sozialdemokrat war, künftig wichtigster Sozialdemokrat in der Bundesregierung bleiben wird. Darüber wird momentan gerade in Berlin verhandelt. Jürgens-Piepers Buch wird für mögliche eigene Ambitionen des SPD-Mannes aus Goslar nicht sonderlich förderlich sein. Immer dann, wenn Erlebnisse mit Gabriel geschildert werden, tut die Autorin dies besonders ausführlich und auch mit Schilderungen verknüpft, die einem größeren Publikum nicht bekannt sind. „Er hat eben beides“, sagte sie gestern, als ihr Nachfolger als Minister, Bernd Busemann (CDU), das Buch in der Landespressekonferenz vorstellte: „Gabriel ist ein rhetorisches Talent, aber er spaltet. Im Augenblick erlebt er gerade einen Höhenflug.“ Auf Seite 233 des Buches schreibt sie noch, „seine manchmal an Selbstmitleid grenzende Emotionalität“ sei beeindruckend gewesen. Reaktionen aus Goslar, sagt Jürgens-Pieper, gab es bisher noch nicht.

Doch zunächst zum Lebensweg in der Politik: Als Gerhard Schröder 1990 das erste rot-grüne Kabinett bildete, musste Kultusminister Rolf Wernstedt (SPD) die Suche nach einen eigenen Staatssekretär einstellen – Schröder verfügte, dass die Grünen jemand für den Posten benennen durften, und es wurde Jürgens-Pieper. Noch ein paarmal habe Schröder danach die Spitze des Kultusressorts vor vollendete Tatsachen gestellt – in dem er über Wernstedts Kopf hinweg entschied, was den Minister tief getroffen habe. 1998 dann wurde Wernstedt Landtagspräsident, und Jürgens-Pieper, inzwischen wieder in der SPD, folgte ihm als Ministerin. Das habe damals auch zu Protesten engagierter Sozialdemokratinnen geführt, beispielsweise von Inge Wettig-Danielmeier, die einen erbosten Brief an Schröder geschrieben habe. Der wird im Buch zitiert.

Es folgen viele Beschreibungen aus dem Innenleben des Regierungsapparates: Wie der Schröder-Nachfolger Gerhard Glogowski mit Kürzungsplänen bei den Kindergärten alle gegen sich aufbrachte, auch in der SPD, und einknicken musste. Wie der Kultus-Arbeitskreis der SPD-Landtagsfraktion gegen die Kultusministerin agierte. Wie Glogowskis Nachfolger Gabriel im kleinen Kreis sowohl sie, als auch Sozialministerin Heidi Merk am liebsten rausgeschmissen hätte. Dann kommt der denkwürdige August 2000, als Jürgens-Pieper beim Friseur über ihre Pressesprecherin erfuhr, dass Ministerpräsident Gabriel ein eigenes Bildungspapier zur Orientierungsstufe verfasst und auch vorgestellt hatte – ohne jegliche Vorahnung der Fachministerin. Sie war wütend, dachte an Rücktritt, wurde sogar von (nicht ganz so wohlmeinenden) Parteifreunden gefragt, ob sie nicht jetzt zurücktreten wolle. Noch heute, schreibt Jürgens-Pieper, erfasse sie angesichts dieser Abläufe „der heilige Zorn“. Sie ließ sich nicht verdrängen, sondern blieb und äußerte öffentlich Kritik, da Gabriel „ein Problem mit starken Frauen“ habe. Das wiederum habe Gabriel so sehr erbost, dass er am nächsten Tag vor einer größeren Runde mit Jürgens-Piepers Entlassung drohte, falls die Medien das Thema „Gabriel und starke Frauen“ aufgreifen würden. Die Zeitungen indes konzentrierten sich am Folgetag auf andere Aspekte – und die Entlassung wurde abgewendet.

Es hat aber wohl noch mehr Demütigungen gegeben, wie dem Buch zu entnehmen ist: Bei der Kabinettsumbildung im November 2000 wurde Jürgens-Pieper die Kompetenz für die Jugendabteilung entzogen, ihr Staatssekretär wurde versetzt. Ein Jahr vor der Landtagswahl 2003, Anfang 2002, seien der SPD die schwierige Ausgangslage und Gabriels Unbeliebtheit bewusst gewesen – doch ein kritisches Papier sei sofort wieder eingesammelt worden. Beschrieben wird noch eine skurrile Szene vom Winter 2001, als Jürgens-Pieper in ihrem Urlaubsquartier im Ostseebad Zingst zufällig auf Gabriel mit engen Mitarbeitern traf. Sie wollten dort interne Papiere zur Bildungspolitik ausarbeiten und waren peinlich berührt. Jürgens-Pieper, die zuständige Ministerin, war vorher nicht informiert worden. Die Autorin schreibt heute: „Für Menschen in Gabriels Nähe ist es immer wieder sehr unangenehm, dass es dem Mann aus Goslar an wichtigen traditionellen Umgangsformen in erschreckender Weise mangelt. Es gibt zwar Augenblicke großer Herzlichkeit und emotionaler Zuwendung, sie werden aber abrupt abgelöst von Schroffheit und aggressivem Verhalten.“

Jürgens-Pieper blieb nach ihrem Ministerabschied 2003 noch politisch aktiv, versuchte erfolglos, Oberbürgermeisterin in Wolfsburg zu werden und war von 2007 bis 2012 Bildungssenatorin in Bremen – mit anderen Umgangsformen, wie sie sagt. (kw)

Renate Jürgens-Pieper: Anmerkungen mit grüner Tinte, Edition Temmen, ISBN 978-3-8378-7053-4. Das Buch kostet 19,90 Euro.