Jahresausblick Klaus Wallbaum | Foto: LUMIKK555 (Gettyimages), Montage: cwl

Die Ära Merkel ist vorüber, und die neue Ampel-Regierung wird gegenwärtig mit reichlich Hoffnungen und Erwartungen überhäuft. „Mehr Fortschritt wagen“, lautet ihr selbstgewähltes Motto. Nehmen wir sie mal beim Wort und fragen uns, was ein wirklicher Fortschritt wäre. So wäre es beispielsweise sinnvoll, die Volksvertretungen so zu verändern und auszustatten, dass sie ihrem Namen gerecht werden und „das Volk“ wieder den Eindruck bekommt, von seinen gewählten Repräsentanten ordentlich vertreten zu werden. Dazu ein paar Thesen:

Der Frauenanteil in den Parlamenten ist erschreckend gering

Dass die Politik in den Parteien, im Bundestag und in den Landtagen, in den kommunalen Vertretungen und in Aufsichtsgremien großer Unternehmen noch immer vor allem männlich geprägt ist, hat viele Gründe. Die Quote verstößt zwar gegen den Grundsatz, dass es für niemanden eine Zugangsbeschränkung zu politischen Ämtern geben soll. Aber ohne die Quote dürfte sich nichts ändern, daher ist sie übergangsweise aus pragmatischen Gründen sinnvoll, zumindest bei Parlamentskandidaturen. Lange schon wird über eine gesetzliche Pflicht diskutiert, sie sollte 2022 endlich kommen.

Schluss mit der Entmachtung der Parlamentarier

Seit Jahrzehnten überbieten sich Bürgerinitiativen und Politikwissenschaftler mit Vorschlägen, die in der Konsequenz vor allem eines bedeuten: Der Spielraum der Abgeordneten von Landtagen oder Bundestag wird eingegrenzt. Das beginnt mit den Rufen nach Bürgerbegehren und -entscheiden, die angeblich „Volkes Stimme“ ausdrücken sollen und in der Praxis dann, Beispiel Krankenhausschließungen, zur Emotionalisierung, Dramatisierung und Verzerrung von Entscheidungen beitragen. Der etwa von Wolfgang Schäuble unterstützte Weg, „Bürgerräte“ zu Fachthemen als Ratschlag-Gremien zu etablieren, womöglich noch mit im Losverfahren ausgewählten Teilnehmern, wird nun im Ampel-Koalitionsvertrag lobend erwähnt. Hier besteht die Gefahr, dass diese Gremien ähnlich wie Expertenräte die Exekutive stärken und die Volksvertretungen schwächen, da die Parlamente ihre Rolle als zentrale Orte der Debatte und der politischen Entscheidung verlieren. Ähnlich sind Medienkampagnen zu bewerten, deren einziges Ziel es ist, mit unsachlichen Positionen Druck auf Abgeordnete auszuüben.

Ausblick 2022: Modernisierung der Volksvertretung

Hier kann man sich den Kommentar von Klaus Wallbaum anhören.

Die Arbeitsweise in den Parlamenten ändern

Die stark formalisierte, auf Verbandsbeteiligung und juristische Prüfung ausgerichtete Arbeitsweise der Parlamente sollte verändert werden. Neben der Gesetzgebung muss mehr Raum geschaffen werden für die grundsätzliche Beleuchtung von Fachthemen und von Zukunftsfragen, dazu gehört auch ein stärkerer Austausch mit den Vertretern der Wissenschaft. Die Rückkopplung der Abgeordneten mit den Menschen in ihren Wahlkreisen funktioniert heute mal mehr und mal weniger gut, je nachdem, wie der jeweilige Politiker das organisiert hat. Womöglich ist es auch sinnvoll, diese Rückkopplung gesetzlich stärker zu formalisieren.

Rückkehr zum Prinzip „Jeder redet über alles“

Gefährlich ist die mit dem Begriff „Identitätspolitik“ charakterisierte Haltung, nur Vertretern bestimmter Minderheiten das Recht zuzubilligen, über deren Probleme öffentlich reden und urteilen zu dürfen. Die große Errungenschaft der Aufklärung, nämlich der freie und ungezwungene Meinungsaustauch der Staatsbürger über alle öffentlich relevanten Themen, muss als Wertebasis gesichert und als unangreifbar anerkannt werden. Bestrebungen, beispielsweise nicht-farbigen Menschen zu verbieten, über den Rassismus in den USA und in anderen Ländern zu debattieren, sind diskursfeindlich und schaden dem demokratischen System. Hier gilt: Wehret den Anfängen! Wer beginnt, für solche Haltungen Verständnis zu entwickeln, stellt den Kern der Rolle eines Volksvertreters in Frage. Jeder Abgeordnete vertritt nämlich das ganze Volk, muss alle Interessen in den Blick nehmen und abwägen. Er ist nie nur der Vertreter einer Gruppe, einer Partei, eines Volksstamms oder einer sozialen Klasse. Daraus folgt das Prinzip, dass jeder Abgeordnete auch über alle politischen Themen frei und ungezwungen sprechen und sich darum kümmern darf.