In jeder Abteilung hängt ein Gong, groß wie ein Kochtopf und mit einem imposanten Schlägel. Wenn sich jemand in die Ecke gedrängt und unter Druck gesetzt fühlt, kann er auf den „Krisengong“ schlagen. Denn wer Probleme mit Drogen bekommt, hat in der Regel auch Schwierigkeiten damit, vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. „Hinter den Drogen steckt immer etwas“, sagt Frank Fischer, Oberarzt auf der Suchttherapiestation „Teen Spirit Island“ im Kinder- und Jugendkrankenhaus „Auf der Bult“ in Hannover: „Die Drogen sind nur der Versuch, sich zu beruhigen.“ Das Thema wird jetzt immer aktueller, nachdem sich die Ampel-Koalition im Bund Ende vergangener Woche auf die Legalisierung von Cannabis verständigt hat.

Immer in Reichweite: Der Krisengong. | Foto: Beelte-Altwig

Auf „Teen Spirit Island“ landen die „Systemsprenger“, die Ängstlichen und die Depressiven, die Kinder mit der „Zappelphilipp“-Krankheit ADHS und die Traumatisierten, die gelernt haben: „Immer, wenn jemand freundlich zu mir war, ist es schlecht ausgegangen.“ Sie haben Erfahrungen mit Gewalt, Missbrauch und Prostitution gemacht und vertrauen niemandem mehr. Das Glücksgefühl, das jeder Mensch braucht und das entsteht, wenn der Botenstoff Dopamin das Gehirn flutet, holen sie sich durch den exzessiven Konsum von Medien oder Substanzen.

Frank Fischer leitet die Jugend-Sucht-Station „Teen Spirit Island“ in Hannover. | Foto: Beelte-Altwig

„Sucht ist das Thema des Menschen im 21. Jahrhundert“, ist Frank Fischer überzeugt. Während er das sagt, liegt dem Bundestag der Gesetzentwurf der Ampelkoalition zur Legalisierung von Cannabis vor, außerdem zwei Gegenanträge der Union und der AfD. Die Bundesregierung plant, dass ab 1. April 2024 jeder Erwachsene Cannabis für den eigenen Bedarf besitzen und anbauen darf. Der Verkauf soll erst später geregelt werden. Zunächst soll der Weg zum legalen Joint über nicht-gewerbliche Anbauvereinigungen führen, die ihre Ernte an die Mitglieder abgeben. Für junge Erwachsene sind Sonderregeln vorgesehen: Sie sollen nur Stoff mit niedrigerem THC-Gehalt und geringere Mengen bekommen. Für Minderjährige wird Cannabis verboten bleiben. 

Suchtexperten warnen vor einer Verharmlosung von Drogenkonsum – gerade bei Jugendlichen. | Foto: GettyImages/guruXOOX

„Cannabis bewirkt eine Verzögerung der Hirnreifung“, erklärt Frank Fischer. Deswegen ist es schädlich für Menschen bis etwa zum Alter von 25 Jahren, denn erst dann ist die Entwicklung des Gehirns abgeschlossen. „Als Arzt kann ich eine Legalisierung für Unter-25-Jährige nicht befürworten“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater. Genau im kritischen Alter, zwischen 16 und 25, sind allerdings die meisten Cannabis-Konsumenten. Von den Bewohnern auf „Teen Spirit Island“ haben auch viele früher gekifft, in Verbindung mit anderen Substanzen. Denn Cannabis ist ein „Downer“, es beruhigt. Wer auf eine Party geht, braucht zusätzlich noch „Upper“, um in Feierlaune zu kommen. 

Ein Aufenthalt auf „Teen Spirit Island“ startet mit einem Entzug. Verborgen hinter einem hohen Zaun liegt die Station, die eher an ein Jugendzentrum als an ein Krankenhaus erinnert. Robuste Sofas, eine Lichterkette gegen das Wintergrau, selbstgestaltete Poster mit weiblichen Vorbildern auf dem Flur: Marie Curie, Amelia Earhart, Frida Kahlo. „Wir sind eine Orchidee in der Psychiatrie“, beschreibt Frank Fischer. Vor Sucht-Patienten schrecken die meisten Einrichtungen zurück, denn sie gelten als „infektiös“. Ist erstmal ein Süchtiger da, steckt er angeblich die Mitbewohner an. Deswegen betont der Psychiater: Das, was bei seinen Patienten schiefgelaufen ist, liegt in der Natur des menschlichen Gehirns. Jeder braucht Belohnungen oder, medizinisch gesprochen: „Jeder hat ein Recht auf Dopamin.“ Das erste therapeutische Ziel für die Jugendlichen ist, zu verstehen: „Ihr Gehirn ist durch die Drogen korrupt geworden.“ 

Powerfrauen wie Marie Curie, Amelia Earhart und Frida Kahlo sollen die Jugendlichen inspirieren. | Foto: Beelte-Altwig

Schizophrenie als Nebenwirkung

Auch die Nebenwirkungen des Kiffens können dramatisch sein: Das Risiko einer dauerhaften Schizophrenie nehmen die Konsumenten in Kauf – egal, ob beim ersten oder beim dreihundertsten Joint. „Jeder hier kennt jemanden, der ,drauf hängen geblieben‘ ist“, sagt Frank Fischer. „Die Konsumenten wägen das Risiko ab: Bei der Mehrheit passiert es eben nicht.“ Eine weitere Nebenwirkung, die eintreten kann, ist das „amotivationale Syndrom“: Dabei sinkt mit der Leistungsbereitschaft und der Lebensfreude auch der IQ. 

Politische versus medizinische Argumente

Die Bundesregierung begründet ihr Gesetzesvorhaben damit, dass sie den Schwarzmarkt eindämmen und Konsumenten vor verunreinigtem Cannabis schützen will. Außerdem bedeutet die Legalisierung für die – meist jungen – Konsumenten, dass sie keine Strafen mehr befürchten müssen, die ihnen berufliche oder persönliche Perspektiven verbauen. „Auch, wenn ich die politischen Argumente verstehe: Ich gucke aufs Gehirn“, sagt Frank Fischer dazu. Die meisten Konsumenten hören mit dem Kiffen auf, wenn sie ins gesetztere Erwachsenenalter kommen. Doch wer noch andere Probleme hat, die er mit den Drogen betäubt, der macht eben weiter. „Das sind die Leute, die mich als Mediziner interessieren“, argumentiert Frank Fischer: „Mir geht es darum, die Risikogruppen zu schützen.“ 

Wieder lernen, anderen zu vertrauen

Auf „Teen Spirit Island“ durchlaufen die Bewohner drei Phasen. Im Gebäude ist diese Struktur klar erkennbar: Nicht für jeden ist jede Tür durchlässig. In der ersten Phase geht es darum, ohne Drogen klar zu kommen, den Tag zu strukturieren, Aufgaben in der Gemeinschaft zu übernehmen. Ist eine Phase geschafft, dann gibt es einen Umzug – auch wenn der nur zehn Meter weiter auf den nächsten Flur führt. Man verabschiedet sich von den Mitbewohnern, packt seine Sachen, zieht in ein neues Zimmer. In der zweiten Phase rückt die Gruppe in den Vordergrund: Die Jugendlichen lernen, sich gegenseitig zu unterstützen und anderen zu vertrauen. Die letzte Phase bereitet sie auf den Auszug vor: Sie gehen wieder zur Schule, machen Praktika, sind in Vereinen aktiv. In den 24 Jahren des Bestehens von „Teen Spirit Island“ ist ein Netzwerk von Jugendhilfe-Einrichtungen entstanden, die die Bewohner nach ihrem Auszug weiter unterstützen – und die keine Vorbehalte wegen ihrer Sucht-Vergangenheit haben. 



Rückkehr in die bürgerliche Welt

„Wir drücken sie langsam wieder in die bürgerliche Welt hinein“, sagt Frank Fischer mit feiner Ironie. In einer Gesellschaft, die Leistung erwartet, müssen die Jugendlichen lernen, wieder zu funktionieren. Auf dem Schulhof die Clique zu wechseln, kann hilfreich sein. „Vielleicht sind die Kiffer ja gar nicht die Coolen, sondern die Loser. Und vielleicht sind die Streber gar nicht doof, sondern haben einfach verstanden, dass ein Schulabschluss wichtig ist.“ Beim Abschied aus „Teen Spirit Island“ hat man vielleicht gelernt, dass Bindungen nichts Gefährliches sind, wenn man Nähe und Distanz selbst steuern kann. Und dass der größte Dopamin-Ausstoß nicht vom Kiffen, sondern von Lob und Anerkennung ausgelöst wird. Wenn das so ist, verliert ein Leben ohne Drogen seinen Schrecken.