„Das Bildungs- und Teilhabepaket hat versagt“, meint Anne Lenze , Professorin der Hochschule Darmstadt. Der Auftrag des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010, auch armen Kindern Lebenschancen zu eröffnen und ihnen langfristig ein Leben unabhängig von Sozialstaatsleistungen zu ermöglichen, wurde nicht umgesetzt“, sagte Lenze am Montag bei der Vorstellung eines Rechtsgutachtens zur Ermittlung der Bedarfe von Kindern.

Anne Lenze (links) bei der Vorstellung des Gutachtens zusammen mit Sozialministerin Carola Reimann – Foto: MB.

Ihre Kritik untermauert die Juristin mit aktuellen Zahlen. Rechnet man die Dunkelziffer mit ein, bekommen demnach in Deutschland 4,4 Millionen von insgesamt 13 Millionen Kindern Grundsicherung, Kinderzuschlag oder Wohngeld. „Wenn vier Millionen Kinder in suboptimalen Verhältnissen groß werden müssen, dann haben wir in diesem Land ein Problem“, meinte Lenze.

Ein weiteres Problem: Wer arm ist, bleibt das häufig auch über einen langen Zeitraum. Einer Studie zufolge blieben 57 Prozent der Kinder aus armen Haushalten länger als zehn Jahre lang arm.  Fast die Hälfte der armen Kita-Kinder beendet die Schule als Hauptschüler oder ohne Abschluss.

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Lenze zufolge ist das Bildungs- und Teilhabepaket nicht nur ungeheuer bürokratisch – 20 bis 30 Prozent der Gelder fließen in Bürokratiekosten – sondern schließt viele Kinder auch aus. Nur 15 Prozent riefen der Teilhabebetrag ab, der gerade zum 1.8. von zehn auf 15 Euro erhöht wurde. Das bedeute, dass bei 85 Prozent der Bedarf ungedeckt bliebe. „Das Bildungs- und Teilhabepaket geht nach wie vor von der Vorstellung aus, man könne ‚die Kinder an den Eltern vorbei fördern'“, heißt es im Rechtsgutachten. Lenze sieht als Ergebnis allerdings eine Schwächung des familiären Zusammenhalts.

Es hapert weniger am Wohnraum, vielmehr an sozialer Teilhabe

Bei armen Kindern hapere es vor allem bei der sozialen Teilhabe. In der Regel seien die Kinder bei Wohnung, Nahrung und Kleidung relativ gut versorgt. Viele könnten aber nicht einmal eine Woche Urlaub im Jahr außerhalb der eigenen Wohnung machen oder mindestens einmal im Monat ins Kino gehen. Auch für Nachhilfe sei kein Geld da. Der Professorin zufolge hat das Bundesverfassungsgericht einen Fehler gemacht: es sei vom Niveau des Existenzminimums ausgegangen. „Das funktioniert nicht. Wir brauchen einen Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft.“ Die Förderung von Kindern müsse sich daran orientieren, was in der Mitte der Gesellschaft möglich und üblich sei.

Der Auftrag für das Rechtsgutachten kam vom niedersächsischen Sozialministerium. Für Ministerin Carola Reimann ist das Gutachten ein Baustein auf dem Weg zu einer Kindergrundsicherung, bei dem sie sich in ein bis zwei Jahren ein „umsetzbares Konzept“ erhofft. „Aus einer guten Idee muss man auch etwas Realistisches erarbeiten.“

Fast jedes fünfte Kind wohnt in einem Haushalt, der droht, abgehängt zu werden. Es kann nicht sein, dass Kinder und Familie in unserem Land ein Armutsrisiko darstellen.

Ziel ist es, mehrere Leistungen zusammenzuführen. Das Geld soll mit geringeren Hürden und unbürokratischer bei den Kindern ankommen. Auf Basis des Rechtsgutachtens bereite man derzeit einen Bericht für die nächste Arbeits- und Sozialministerkonferenz im November vor, erklärte Reimann.

Für die Idee der Kindergrundsicherung gebe es bereits eine breite Zustimmung, schließlich gehe es um Chancengerechtigkeit. Allein Bayern sei bisher nicht vom Konzept einer Kindergrundsicherung überzeugt. „Fast jedes fünfte Kind wohnt in einem Haushalt, der droht, abgehängt zu werden. Es kann nicht sein, dass Kinder und Familie in unserem Land ein Armutsrisiko darstellen“, sagte die Sozialministerin.