Liebe Leserinnen und Leser,

am vergangenen Wochenende haben die Gewerkschaften protestiert – angeführt von der IG Metall. „Das wurde aber auch Zeit“, mag man denken. Die Rufe nach einem vergünstigten Strompreis für die deutsche Industrie erklangen schon vor Monaten – und geschehen ist seither: nichts. Während die Ampel-Regierung in Berlin von Uneinigkeit nicht nur in dieser Frage wie gelähmt wirkt, zeigen die deutschen Wirtschaftsdaten dramatisch nach unten. Das kann den Industriestandort bedrohen. Höchste Zeit also, dass die Gewerkschaften aufbegehren.

Aber, oh Wunder: Es ging bei der Demonstration gar nicht um die Wirtschaftspolitik. Die Protestler mit der IG Metall an der Spitze wandten sich vielmehr „gegen Nazis“ und gegen die AfD als „im Kern faschistische Partei“. Denn zur gleichen Zeit, als die Demonstration startete, trafen sich die Mitglieder der niedersächsischen AfD zu ihrem Parteitag in Celle. Eine Gruppe „Solidarisches Celle“ verbreitete schon Tage vorher einen „Aufruf gegen den Landesparteitag der AfD in Celle“. Da stellt sich die Frage: Warum wenden sich die Gewerkschaften „gegen Nazis“, nicht aber gegen die Tatenlosigkeit der deutschen Politik angesichts der dringend notwendigen, aber bisher von der Politik nicht beschlossenen Wirtschaftshilfen?

IG-Metall-Chef Thorsten Gröger hält bei der Demo gegen den Landesparteitag der AfD in Celle eine engagierte Rede. | Foto: Link

Hier der Versuch einer Antwort: Sicher hätte die IG Metall gegen die Blockade des Industriestrompreises durch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) demonstrieren können. Das hätte einer Gewerkschaft, die zuallererst das Wohl ihrer Beschäftigten im Blick haben muss, sogar gut zu Gesichte gestanden. Nur wäre man dann nicht umhin gekommen, auch die Rolle der SPD und des Kanzlers Olaf Scholz zu beleuchten. Ob man das aber nicht wollte, um den Treueschwur zwischen SPD und IG Metall nicht zu gefährden? Kann sein, nur fragt man sich, was dieser Treueschwur überhaupt noch wert ist.

Viele sagen sich nun, dass „die Gefahr von rechts“ sowieso das viel größere aktuelle Problem sei, wobei mit „rechts“ dann immer „rechtsradikal“ gemeint ist. Bei Demonstrationen „gegen rechts“ werden diejenigen, gegen die man sich richtet, dann schnell zu „Nazis“. Also zeigten die Gewerkschafter wenigstens Flagge gegen die Nazis, wenn sie schon nichts zum beklagenswerten Zustand der Ampel-Regierung im Bund sagen sollten (oder wollten). Das ist für die Gewerkschaften weit bequemer, da sich dann auch die SPD nicht angegriffen fühlen muss. Nur: Ist dieser Protest tatsächlich gerechtfertigt?

Bei aller berechtigten Kritik an rechtsextremen Tendenzen in Teilen der AfD muss hier mal festgehalten werden, worum es bei diesem Landesparteitag ging: Die Partei formulierte ihre Satzung neu und beriet auch über politische Forderungen – wie man die Zuwanderung stärker begrenzen kann, ob ein Ausstieg aus der EU ratsam sei, wie man sich gegen die deutsche Unterstützung für die Ukraine wenden sollte. Die AfD ist eine zugelassene Partei, und Rufe nach Begrenzung der Zuwanderung sind kein „Faschismus“ – denn man hört das auch aus Teilen der CDU oder SPD, sogar von den Grünen. Und in Dänemark etwa ist es fester Bestandteil sozialdemokratischer Regierungspolitik.

Dass über den Sinn der EU-Mitgliedschaft oder über das Verhalten gegenüber Russland diskutiert, ja gestritten werden muss, halte ich sogar für elementar. Die Demokratie kann nur lebendig bleiben, wenn sie das Ringen um den richtigen Weg auch aushält. Wenn man hinter jeder abweichenden Meinung aber gleich die „Gefahr von rechts“ wittert und „wehret den Anfängen“ ruft, dann kann das am Ende sogar eine verheerende Wirkung haben.

Hitler mit Teufelshörner und AfD-Logo: Viele Teilnehmer der #noAfD-Demo in Celle setzen die Partei mit den Nazis gleich. Insgesamt nehmen nach Angaben der Polizei rund 1500 Menschen an dem Protest teil. | Foto: Link

Man stelle sich mal folgende Situation vor: Viele Bürger bekommen mit, dass die Menschen vor der Tagungshalle des AfD-Parteitages „Nazis raus!“ gerufen haben – während die Menschen drinnen über Flüchtlingspolitik, Russlandpolitik und ihre eigenen Satzungsfragen gerungen haben. Die Bürger würden sich fragen, ob es den Demonstranten, die ja einen Aufruf „gegen den Landesparteitag“ gestartet hatten, gar nicht um vermeintliche „Nazis“ ging, sondern die Diskussionen über eben die Fragen, die von der AfD – häufig sehr schrill, aber immerhin – gestellt werden. Von diesem Eindruck ist es dann nicht mehr weit zu der Einschätzung, bestimmte Kräfte wollten den offenen Meinungsaustausch über Themen, die sie für unbequem halten, unterbinden.

Um es hier klar zu sagen: Ich freue mich über jede zugelassene Partei, die auf öffentlichen Parteitagen um ihren Weg ringt, die diskutiert, streitet und ihre internen Kräfteverhältnisse misst. Denn das ist Ausdruck der Demokratie, und ohne solche Erscheinungen nimmt das System schaden. Ich ärgere mich auch über die „Nazi-Keule“, die gern gegen Andersdenkende geschwungen wird – denn dieses Verhalten blockiert den Diskurs und ist geeignet, die Zweifel vieler Bürger am Bestand unseres demokratischen Systems zu bestärken. Und ich wünsche mir, dass die „Proteste gegen AfD-Parteitage“ endlich enden. Man kann gegen Treffen von Nazis oder Aufmärsche extremistischer Organisationen protestieren, das ist gut und richtig. Aber nicht gegen Parteitage von zugelassenen Parteien – ob sie nun weit links oder weit rechts stehen.

Wir berichten heute über die Inhalte des AfD-Parteitags, und zwar ausgesprochen gern und ausführlich. Wir schildern auch die neuen Entwicklungen in der evangelischen Landeskirche – und wir schreiben über die Verärgerung der Kommunen, die sich die neuen Sparpläne von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil näher angeschaut haben.

Ich wünsche Ihnen einen diskussionsfreudigen Start in die neue Woche,

Klaus Wallbaum