Seit etwas mehr als einem halben Jahr lebt Niedersachsen nun schon mit dem Corona-Virus. Ganz verschiedene Phasen haben Bevölkerung, Politik und Forschung seitdem durchlaufen. Knapp 17.000 Menschen haben sich hierzulande inzwischen mit Covid-19 infiziert, mehr als 600 davon sind gestorben, der weit überwiegende Teil ist genesen. Wie blickt man nun im niedersächsischen Landesgesundheitsamt (NLGA) auf das Geschehen der vergangenen Monate zurück?

Im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick erinnert sich NLGA-Präsident Matthias Pulz an die Phasen der Pandemiebekämpfung: „Im Januar wurden wir auf das Infektionsgeschehen in China aufmerksam gemacht“, berichtet Pulz über den Beginn des Corona-Jahres. Eine realistische Bewertung der Lage sei zu der Zeit allerdings jenseits der Volksrepublik noch nicht möglich gewesen. Alles, was man kannte, seien die schrecklichen Bilder von abgeriegelten Städten gewesen, so Pulz. „Der Eindruck war: Das ist relativ weit weg, keine besondere Bedrohungslage.“ Doch das änderte sich recht bald.

„Wir müssen jetzt Geduld haben“, sagt NLGA-Präsident Matthias Pulz mit Blick auf die bevorstehenden Monate der Corona-Pandemie. – Foto: nkw

Zuerst tauchte das Virus in Deutschland in Bayern auf. Seitdem war man auch in Niedersachsen in Habacht-Stellung. Im NLGA hat man angefangen sich zu präparieren, die Diagnostik wurde aufgebaut. Am 1. März erreichte das Corona-Virus dann auch Niedersachsen, in der Region Hannover hatte es den ersten bekannten Covid-Fall gegeben. Die steigenden Zahlen an den folgenden Tagen und der Blick nach Italien, Spanien und Frankreich verunsicherten die Entscheidungsträger stark. „Zu der Zeit war die Situation in Italien schon völlig eskaliert“, beschreibt Pulz die internationale Lage, vor deren Hintergrund man auch in Deutschland die nächsten Schritte plante. Schließlich griff man zu einem Instrument, von dem der NLGA-Präsident sagt, dass man es in keinem Pandemieplan finden konnte: Shutdown. Schulen zu, Geschäfte zu, das öffentliche Leben lahmgelegt. „Das war ein ganz massiver Schritt, der aber erfolgreich war“, sagt Pulz. Doch die Entscheidung war folgenschwer, mit den sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen wird die Republik noch lange zu kämpfen haben, weiß man jetzt. „Zu dem Zeitpunkt waren sich aber alle einig: Es ist das einzige Mittel.“


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Mit etwas Zeitverzögerung zeigte der Shutdown Wirkung. Am 27. März erreichten die Corona-Neuinfektionen in Niedersachsen ihren Höhepunkt, 449 neue Fälle wurden an dem Tag gemeldet. Danach änderte sich der Trend, die Zahlen gingen nach und nach zurück. Ab Anfang April hat man deshalb langsam darüber nachgedacht, wie man die Lockerungen angehen könnte. Die Landesregierung entwickelte einen Stufenplan – zurück zu einer neuen Normalität. „Niedersachsen hat den Anlauf genommen, weiter in die Zukunft zu schauen“, sagt Pulz lobend. Dabei seien die einzelnen Stufen des Lockerungsplans allerdings nicht rein medizinisch begründet, „denn wir haben ja keine Blaupause“, gesteht der NLGA-Präsident ein. Das Vorgehen sei eine Mischung gewesen aus neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem politischen Wunsch, das öffentliche Leben wieder möglich zu machen – ein „Sich-Rantasten“.

Es war jetzt nicht die Zeit, Studien zu machen und zum Beispiel die Länder zu vergleichen. Ich halte es ohnehin nicht für möglich, in diesem Fall Bundesländer miteinander zu vergleichen.

Ein kleinteiligeres Vorgehen hätte dem Wissenschaftler Pulz zwar besser gefallen, denn dann wäre deutlich geworden, welchen Effekt eine Maßnahme erzielt. Doch dann hätte der Prozess Monate gedauert und viel mehr Unverständnis ausgelöst, meint er. „Es war jetzt nicht die Zeit, Studien zu machen und zum Beispiel die Länder zu vergleichen. Ich halte es ohnehin nicht für möglich, in diesem Fall Bundesländer miteinander zu vergleichen.“ Sicher ließe sich feststellen, dass es in den neuen Bundesländern weniger Infektionen gebe, dass Bayern und Baden-Württemberg stärker betroffen waren. Daraus könne man dann etwa ableiten, dass der Reiseverkehr ein anderer sei, die Bevölkerungsstruktur auch. „Doch welche Konsequenzen zieht man dann aus diesen Erkenntnissen?“

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Von Mai bis Juli befand sich Niedersachsen in einer neuen Phase der Corona-Pandemie. „Ruhiges Fahrwasser“ nennt Pulz diese Zeit. Immer mehr Landkreise meldeten keine oder nur noch sehr wenige Neuinfektionen. Allerdings traten in dieser Phase die ersten Hotspots auf: in Pflege- und Altenheimen, in Schlachtbetrieben, bei einem Paketzusteller, im Umfeld einer unerlaubten Feier oder in einem Hochhaus in Göttingen. Die Ausbrüche waren heftig aber immerhin klar zu lokalisieren, durch konsequente Nachverfolgung ließ sich das Infektionsgeschehen jeweils eindämmen. Im Juli schien die Sache erledigt, hätte man meinen können.

Doch dann, ab August, kam die nächste Phase der Corona-Pandemie: Während der Sommermonate sind zahlreiche Menschen in den Urlaub gefahren, teilweise in Regionen, die später wieder zu Risikogebieten erklärt werden mussten, mancherorts wurden die Corona-Regeln nicht so streng gehandhabt, wie es wohl notwendig gewesen wäre. Die täglichen Neuinfektionen stiegen in Niedersachsen wieder über 100. NLGA-Präsident Pulz merkt an, dass sich in dieser neuen Phase das Altersspektrum derjenigen gewandelt hat, die sich mit dem Virus ansteckten. Waren es in den ersten Monaten der Pandemie vor allem ältere, die krank wurden und sogar in der Klinik behandelt werden mussten, stieg nun gerade die Zahl der jüngeren Menschen mit einer Corona-Infektion.

Wir wissen an vielen Stellen nicht so viel, wie wir uns das wünschen.

Und wie geht es nun weiter? Zunächst beginnt mit dem Herbst nun die Jahreshälfte, die eine größere Herausforderung werden könnte. Die Erkältungssaison steht bevor, bald wird es weniger Aktivitäten geben, mit denen man an die frische Luft ausweichen kann. „Wir gehen davon aus, dass wir bis ins neue Jahr hinein lernen müssen, mit den Abstandsregeln zu leben“, prognostiziert Pulz. Die großen Erwartungen an Antikörpertests zur Bewertung der Immunität nach durchgemachter Infektion konnten bislang nicht erfüllt werden. Eine Durchimmunisierung aufgrund des Umstands, dass Menschen nach einer Infektion eine individuelle Immunität aufgebaut haben, gibt es nicht. Im ersten Quartal des nächsten Jahres, mutmaßt der NLGA-Präsident, wird es womöglich die ersten Impfungen geben. Doch es werde keine Hauruck-Maßnahme geben, nur peu à peu wird die Impfung möglich sein.

„Wir wissen an vielen Stellen nicht so viel, wie wir uns das wünschen“, bekennt Pulz nach Monaten der Beschäftigung mit dem neuen Virus. Wie lange hält eine Immunität nach einer überstandenen Infektion an? Wie wird die Impfung wirken? Muss es womöglich zwei Impfungen geben? Viele offene Fragen. Der NLGA-Präsident geht davon aus, dass bis zur Mitte des nächsten Jahres noch mit Einschränkungen gerechnet werden muss. „Wir müssen jetzt Geduld haben.“

Von Niklas Kleinwächter