Von Martin Brüning

Niedersächsische FDP-Mitglieder rieben sich in der vorvergangenen Woche verwundert die Augen, nachdem die Freien Demokraten im Landtag die Grünen bei ihrer Forderung nach einer Enquetekommission zur Vorbereitung eines Paritätsgesetzes unterstützt hatten. Was für ein Schwenk war das nun wieder? Macht die Partei damit für künftige Koalitionsoptionen einen weiteren Schritt in Richtung eines potenziellen künftigen Partners?

Während die FDP sich ruckartig aus der selbst gewählten Oppositions-Isolation zu befreien versucht, vollzieht sich bei den Grünen ein Wandel unterhalb der Oberfläche. Die Vielzahl neuer Mitglieder führt zu Veränderungen in der Partei. Derzeit haben die Grünen in Niedersachsen rund 7770 Mitlieder, das sind fast 13 Prozent mehr als zu Beginn des Vorjahres. Der Kreisverband Hannover ist inzwischen auf mehr als 1500 Mitglieder gewachsen, der Göttinger Kreisverband auf fast 600. Politikverdrossenheit? Nicht bei den Grünen. Mit der Vielzahl neuer Mitglieder zieht bei der Partei auch ein neuer Pragmatismus ein.

Sie wissen, was ihre neuen Mitglieder wollen: Anne Kura, Grünen-Landesvorsitzende, und Anja Piel, Fraktionschefin der Grünen im Landtag – Fotos: Grüne Nds / M: nkw

„Die flügelpolitischen Auseinandersetzungen nehmen ab“, beobachtet Anja Piel, Vorsitzende der Grünen-Landtagsfraktion. Flügelaspekte spielten inzwischen keine vorrangige Rolle mehr. Das beobachte sie auch bereits seit längerem in den Landesverbänden in Bremen und Schleswig-Holstein. Und auch etwas anderes schleicht sich bei den Grünen leise heraus: der teilweise detailverliebte Dogmatismus. Die sonst mit der Partei eng verbundene Geschäftsordnungsdebatte stirbt.

„Viele hätten kein Interesse mehr an Geschäftsordnungsdebatten. Die wollen lieber gleich am nächsten Tag eine Aktion starten“, beobachtet Mathis Weselmann, Vorstandssprecher des Göttinger Kreisverbandes. Auch die Parteivorsitzende Anne Kura kann sich nur schwer vorstellen, dass sich Neumitglieder auf stundenlange Geschäftsordnungsdebatten einlassen würden. „Die neuen Mitglieder wollen etwas verändern. Man spürt dadurch viel Energie in der Partei“, freut sich Kura.

Grüne spüren eine „Revitalisierung des Politischen“

Aber was treibt die große Zahl neuer Mitglieder überhaupt zu den Grünen? Kura stellt vor allem drei Beweggründe fest. Den einen gehe es um die Themen Umwelt und Klimaschutz, den anderen um soziale Gerechtigkeit und sehr vielen auch um die Veränderungen durch das verstärkte Auftreten von Rechtspopulisten in Deutschland und anderen Ländern. Viele neue Grünen-Mitglieder seien schon vorher stille Sympathisanten gewesen, die sich jetzt aber mit an den Stand in der Fußgängerzone stellten. Kura spricht von einer Revitalisierung des Politischen. „Die Leute möchten wieder gerne Politik machen“, stellt sie fest.

Die Zeiten, in denen man einfach Sozialwissenschaftler und taxifahrende Studienabbrecher dem Grünen-Klientel zuordnen konnte, sind ohnehin schon lange vorbei. Jetzt kommen sogar neue Mitglieder aus der freien Wirtschaft. Und sie kommen von überall her. Es seien eben nicht nur Studenten, die die Welt verändern wollten, sagt Weselmann. „Die neuen Mitglieder stehen mitten im Berufsleben oder sind schon in Rente und haben dadurch Zeit, sich aktiv einzubringen. Die sind motiviert und sagen, dass man jetzt mal was machen müsste.“ Man wolle ihnen auf jeden Fall auch die Möglichkeiten für ihr Engagement bieten. In genau dieser Partizipation sieht Anja Piel den Schlüssel. „Die neuen Mitglieder wollen an Prozessen beteiligt sein. Sie fragten gleich zu Beginn, wo sie sich einbringen können.“

Aktion statt Selbstvergewisserung

Früher sei es beim Parteieintritt häufig noch um eine politische Selbstvergewisserung gegangen, jetzt gehe es um Aktion. Vermitteln müsse man den Neu-Mitgliedern allerdings, dass der Weg von der Aktion bis zur politischen Realität sehr lang sein kann. Weselmann spricht von einem „gewissen Moment des Lernens“ bei den neuen Aktiven. Dass die Neuen schnell wieder die Partei verlassen, wenn die Umfragewerte wieder nach unten gehen, glaubt Kura derweil nicht. Zum einen seien sie extrem motiviert, zum anderen gebe es bei den Mitgliedszahlen bereits seit Jahren einen kontinuierlichen Aufschwung.

Der schon seit längerem zu beobachtende Anstieg spricht auch gegen das Argument, dass die Neu-Mitglieder allein durch Politik-Philosoph Robert Habeck und die Vorsitzende, die mehr sein möchte als „die Frau an Roberts Seite“, Annalena Baerbock, angezogen werden. Kura sieht das Führungsduo der Bundespartei als zusätzlichen Impuls. Der allein reiche aber noch nicht. „Die beiden geben nur denjenigen den letzten Schubs, die sich ohnehin einbringen wollen“, glaubt die Landesvorsitzende.


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Für Weselmann ist auch ein bisschen Glück im Spiel. Habeck und Baerbock seien einfach „die richtigen Vorsitzenden zum richtigen Zeitpunkt“. Und Piel freut sich, dass beide authentisch wirkten, wenn auf Instagram zu sehen sei, wie Habeck auf dem Fußboden sein Jackett bügelt oder auf der Couch ein Nickerchen macht, während Baerbock daneben am Handy daddelt. „Die brauchen keine Imageberater, die sind so“, sagt Piel in dem Wissen, dass man von Christian Lindner solche Fotos wohl niemals sehen würde.

Eine kleine Schwierigkeit gibt es durch den Mitgliederansturm natürlich schon: Die Parteiorganisation arbeitet seit Monaten am Limit. Aber das Problem nimmt man bei den Grünen wohl gerne hin. Weselmann bringt es auf den Punkt: „Administrativ ist das gar nicht so einfach, aber eben doch ganz wundervoll.“