Der Landrat von Hameln-Pyrmont, Tjark Bartels (SPD), will die Krise als Chance nutzen: Im Jugendamt seines Kreises sind verheerende Versäumnisse bekannt geworden. Nun will er die Behörde zu einem vorbildlichen Amt weiterentwickeln. Bartels selbst betont, von schwerwiegenden Vorwürfen gegen seine Mitarbeiter erst vor rund einer Woche erfahren zu haben – nachdem die Staatsanwaltschaft die zuvor beschlagnahmten Akten teilweise wieder an den Landkreis zurückgegeben hatte. Daraus wird nun deutlich, dass Mitarbeiter des Jugendamtes 2016 mindestens drei Hinweise auf die mögliche Pädophilie des Pflegevaters Andreas V. hatten.


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Der Mann betreute seit 2016 ein sechsjähriges Mädchen in seinem Wohnwagen auf dem Campingplatz in Lügde (Kreis Lippe). Seit Ende 2018 sitzt er in Untersuchungshaft, ihm wird vorgehalten, in einen Pädophilen-Ring verstrickt zu sein und massenhaft Kindesmissbrauch begangen zu haben. Das Hamelner Jugendamt zog aus den drei Hinweisen aber seit 2016 nicht die nötigen Entscheidungen, sondern legte Anfang 2017 vielmehr fest, V. die Pflegevaterschaft zu übertragen. Außerdem soll eine Mitarbeiterin des Jugendamtes Ende vergangenen Jahres, nachdem der Fall öffentlich geworden war, einen Teil der Akte getilgt haben – nämlich einen Vermerk, der auf die Gefährlichkeit von V. hingewiesen hatte.

Jeder Schritt feinsäuberlich protokolliert

Bartels und Sozial-Staatssekretär Heiger Scholz (SPD) unterrichteten gestern im Sozialausschuss des Landtags über den Fall. Der Landrat sagte, gegen die eine Mitarbeiterin des Jugendamtes, die die Akte manipuliert haben soll, werde eine fristlose Kündigung vorbereitet. Das Behördenversagen im Kreisjugendamt sei deshalb so sonderbar, weil die Mitarbeiter den Fall eigentlich sehr gründlich bearbeitet hätten. Die Akten umfassen mehr als 800 Seiten, in denen jeder Kontakt und jeder Schritt der Amtskontakte feinsäuberlich protokolliert wurde.

Lange habe schon Kontakt zur Mutter des Mädchens bestanden, die sich mit der Erziehung überfordert sah und V. als Pflegevater empfohlen hatte. Das Amt folgte dieser Empfehlung, mehrere Hinweise auf die problematische Umgebung von V. – den Campingplatz – und den Pädophilie-Verdacht seien tatsächlich nachverfolgt worden. Aber man habe nicht den Schluss gezogen, dass der – wie man heute weiß: zutreffende – Verdacht richtig sein könne. Die Behörden hatten viel auch mit dem Pflegevater direkt zu tun. „Vermutlich war es so, dass man einen Menschen, den man kennengelernt hat, nicht zutraut, ein Verbrechen zu begehen“, sagte Bartels.

Vermutlich war es so, dass man einen Menschen, den man kennengelernt hat, nicht zutraut, ein Verbrechen zu begehen.

Die SPD-Abgeordnete Thela Wernstedt meinte, eine Erklärung für dieses „völlige Versagen des Kinderschutzes“ könne in der manipulativen Art des Täters liegen: „V. hat es offenbar verstanden, seiner Umgebung einen völlig falschen Eindruck von seiner Persönlichkeit zu vermitteln.“ Bartels plant nun, sein Jugendamt neu aufzustellen. In Schulen sollten Kinder gezielt angesprochen werden – beispielsweise über Theaterspielen sollten sie Möglichkeiten erhalten, einen möglichen Missbrauch zum Ausdruck zu bringen. Sozial-Staatssekretär Scholz sprach von verpflichtenden Schulungen für Jugendamt-Mitarbeiter, ebenso für Schulsozialarbeiter. Auch ehrenamtliche Kräfte sollten besser aus- und fortgebildet werden, damit sie frühzeitiger Anzeichen für Missbrauchsfälle wahrnehmen und die richtigen Konsequenzen ziehen. Im Kreis Hameln-Pyrmont soll künftig eine externe Aufsicht eingerichtet werden, die das Handeln des Jugendamtes regelmäßig überprüft und zur Not einschreiten kann.

Cornelia Pieper und Volker Meyer von der CDU hakten im Sozialausschuss nach, ob nicht Bartels selbst auch Versäumnisse eingestehen müsse. Der Landrat betonte aber, es habe keine Hinweise von Jugendamt-Mitarbeitern auf Überlastung gegeben, auch seien keine Unregelmäßigkeiten in der Behörde aufgefallen, die zum Eingreifen des Landrats hätten führen müssen. Es sei vielmehr ausreichend Personal aktiv gewesen, die Mitarbeiter hätten auch gründlich gearbeitet. Er hätte sich gewünscht, wie er sagt, dass man den Wunsch der Mutter, ihre Tochter bei V. unterzubringen, näher hinterfragt und nach Alternativen gesucht hätte. Meta Janssen-Kucz (Grüne) erklärte, im Fall Lügde liege „ein Systemversagen auf allen Ebenen vor“. Sylvia Bruns (FDP) erkennt eine „persönliche Verantwortung beim Landrat“. Volker Meyer (CDU) sieht beim Kreis Hameln „ein schwerwiegendes Organisationsversagen, für das der Landrat die politische Verantwortung trägt“.