Seit Beginn des neuen Jahres stehen Marco Brunotte von der Arbeiterwohlfahrt im Bezirk Hannover und Ralf Selbach vom DRK-Landesverband an der Spitze der „Landesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege“ (LAG FW). Im Gespräch mit der Redaktion des Politikjournals Rundblick erläutern die beiden ihre Ziele – und sprechen über die wichtigsten Erwartungen an die Landespolitik.

Ralf Selbach (links) und Marco Brunotte von der Landesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege sprechen über ihre Erwartungen an die Landespolitik. | Foto: DRK, AWO, Canva

Rundblick: Herr Brunotte, Herr Selbach – dieses Jahr ist ganz besonders. Auf der einen Seite arbeitet die neue Bundesregierung an Reformen, auf der anderen stehen im Herbst Landtagswahlen bevor. Wie positionieren Sie sich in dieser Situation?

Brunotte: Wir wollen diese Lage nutzen, um mit möglichst vielen Akteuren der demokratischen Parteien im Lande ins Gespräch zu kommen. Wir begrüßen die Aufbruchsstimmung auf der Bundesebene, wie zum Beispiel beim Thema Kindergrundsicherung, und wollen den Schwung für die Landtagswahl nutzen. Unsere Forderungen und Positionen werden wir auf vielen Wegen adressieren. Pandemiebedingt wird dies vorerst vorwiegend im digitalen Format geschehen, beispielsweise unser Neujahrsempfang am 15. Februar zum Thema Kinderarmut. Hoffentlich können wir dann nach einem Abklingen der Corona-Lage wieder stärker in Präsenz agieren.

Rundblick: Was macht Ihre Stärke aus?

Selbach: Unsere Vielfalt, gemeinsame Ziele und Interessen und nicht zuletzt unsere sozialpolitische Relevanz für viele Lebensbereiche in unserer Gesellschaft. Wir sind ganz unterschiedliche Organisationen, vom Deutschen Roten Kreuz über die Arbeiterwohlfahrt bis zum Paritätischen Wohlfahrtsverband und den konfessionellen Partnern. Jeder Verband hat seine speziellen Zugänge – und weil wir gemeinsame Ziele verfolgen, funktioniert der Zusammenschluss, und über diesen Zusammenschluss sind enge Kontakte zu allen politischen Akteuren möglich. Wir verstehen die LAG dabei oft auch als Brückenbauer für unterschiedliche Interessen und Zielgruppen.

Fachkräftemangel auch in Kindergärten „eklatant“

Rundblick: Sie sind auch Arbeitgeber, beispielsweise in den Kindergärten. Die Situation dort wird allgemein als unbefriedigend empfunden. Wie sehen Sie das?

Brunotte: Das Thema Fachkräftemangel ist mittlerweile auch hier eklatant. Einerseits finden wir zunehmend nicht genug Erzieherinnen, auf der anderen Seite sind diejenigen, die diesen Beruf ausüben, stark belastet. Die Novellierung des niedersächsischen Kindertagesstättengesetzes hat an der Lage nicht viel geändert. Die Vergütung ist ein Thema, aber oft nicht das entscheidende. Wenn Erzieherinnen nur noch im Stress sind, bleiben wichtige Aufgaben liegen – etwa die Bildungsvermittlung, die Elternarbeit oder auch das Eingehen auf jedes einzelne Kind in der Gruppe.

Rundblick: Wie kann man das Problem lösen? Die Ausbildung zum Erzieher ist aufwendig und lang. Haben Sie nicht Sorge, dass irgendwann nicht mehr genügend junge Leute bereit sind, diesen Weg einzuschlagen?

Brunotte: Ja, so ist es. Die Ausbildung dauert vier Jahre und damit ein Jahr länger als viele andere Ausbildungen. Glücklicherweise muss kein Schulgeld mehr gezahlt werden – aber eine Vergütung für die Ausbildung gibt es auch nicht. Wir sind der Ansicht, dass multiprofessionelle Teams in den Kindergärten eine spannende Option sein könnten. Warum sollte nicht ein Handwerker oder ein Musiker mit den Kindern arbeiten? Das Qualifikationsniveau für Erzieherinnen sollte beim DQR6-Niveau bleiben.

Selbach: Niemand will die Qualität der Erziehungsarbeit in den Kindergärten absenken, auch wenn immer wieder diese Sorge geäußert wird. Tatsache ist aber, dass wir in den Gruppen mehr Kräfte brauchen, um die Erzieher zu entlasten. Wir müssen über differenzierte Qualifikationen nachdenken, es geht nicht anders – also Personal für die anspruchsvollen und auch Personal für die einfacheren, unterstützenden Tätigkeiten.

Rundblick: Muss die Ausbildung anders strukturiert werden?

Brunotte: Wir müssen darüber reden. In der Pflege etwa ist die Ausbildung zu einem sehr geringen Teil im Personalschlüssel enthalten, der von den Kostenträgern mitvergütet wird. Man kann erwägen, ein ähnliches Modell für die Erzieherinnen anzustreben, wobei die Finanzierung dann von der öffentlichen Hand, von Bund, Land und Kommunen geleistet werden müsste. Ein weiterer Schritt könnte der Aufbau von Erzieherinnenschulen sein. Gegenwärtig ist für unsere Mitgliedsverbände der Neuaufbau einer solchen Schule schlichtweg finanziell nicht leistbar. Dabei nimmt die Nachfrage nach Erzieherinnen noch weiter zu, denken Sie nur daran, dass demnächst auch noch der Ganztags-Rechtsanspruch für die Grundschüler kommt.

Niedersachsen soll Kinderarmut stärker bekämpfen

Rundblick: In welchen anderen Punkten werden Sie sich in diesem Jahr voraussichtlich positionieren?

Brunotte: Ein Schwerpunktthema wird Kinderarmut sein. In Niedersachsen ist jedes fünfte Kind armutsgefährdet. Die Bundesregierung will mit der Kindergrundsicherung von Armut bedrohte Familien helfen und sie vor Armut schützen. Wir werden uns dafür engagieren, dass Niedersachsen dieses als Schwung für eigene Bemühungen zur Überwindung von Kinderarmut nutzt. Eine Option könnte der Ausbau von Quartiersarbeit sein, um dezentrale, niedrigschwellige Hilfesysteme auf- und auszubauen. Über das Bündnis für „Gute Nachbarschaft“ werden wir uns zum Beispiel für eine Verstetigung der Mittel und eine Überführung der Projekte in dauerhafte Aufgaben einsetzen.

Rundblick: Erwarten Sie Impulse vom Bericht der Ehrenamtskommission, die vor geraumer Zeit im Landtag eingesetzt worden ist?

Selbach: Was von dort bisher vorliegt, klingt partiell noch sehr verhalten und allgemein. Und: Wer finanziert den dort zusätzlich festgestellten Bedarf? Der Katastrophenschutz beispielsweise ist chronisch unterfinanziert, aber ohne die vielen ehrenamtlichen Kräfte von DRK, ASB, DLRG, JUH und MHD ist er nicht zu leisten. Wenn dann diese Einrichtungen nicht gleichgestellt werden mit THW und Freiwilliger Feuerwehr, die auf ganz andere Mittel zurückgreifen können und deren Helfer gute gesetzliche Freistellungsrechte haben, ist das nicht nur ungerecht, sondern perspektivisch hoch problematisch. Die Digitalisierung ist auch ein wichtiges Thema. Leider fallen die gemeinnützigen Wohlfahrtsverbände wie wir bei der Förderung oft durch, weil wir für die KMU-Förderung zu viele Mitarbeiter haben, quasi als verbundene Unternehmen betrachtet werden. Aber als eigenkapitalschwache gemeinnützige Vereine und Gesellschaften haben wir oft nicht die Möglichkeit, aus eigener Kraft umfänglich größere Investitionen zu tätigen. Trotzdem sind die Fortschritte partiell schon gewaltig.

Rundblick: Was genau meinen Sie?

Selbach: Das DRK betreibt in Hannover und Goslar die landesweit größte Rettungsschule, und wegen der Pandemie haben wir die Ausbildung auf komplett digitale Formate umgestellt, die wir auch künftig ergänzend nutzen wollen. Jeder Auszubildende wurde mit einem iPad ausgestattet und kann eine von uns eigens entwickelte leistungsfähige digitale Lernplattform, den DRK-eCampus, nutzen, der jetzt auch in deren Bereichen sukzessive zum Einsatz kommt. Die Digitalisierung ist, was namentlich den Rettungsdienst und das Gesundheitswesen wie die Pflege insgesamt angeht, eine große Chance. Leider sind wir aber auch in Niedersachsen von einer wirklich modernen Ausstattung in den sozialen Bereichen noch sehr weit entfernt. Gerade die Telemedizin scheitert in der Praxis zu oft an Vorgaben des Datenschutzes und mangelnden Investitionsmitteln, aber auch an stabilen und leistungsfähigen Netzen.