Es ist fast schon zu spät, aber der Versuch wird offenbar ganz ernsthaft unternommen: Kommenden Dienstag soll der Koalitionsausschuss von CDU/CSU und SPD in Berlin die Frage klären, ob das Wahlrecht doch noch auf den letzten Metern geändert werden soll. Geschieht das nicht, so droht mit Überhang- und Ausgleichsmandaten der nächste Bundestag aus allen Nähten zu platzen und mehr als 800 Mandate zu haben – gegenüber der gesetzlichen Zahl von 598. Derzeit sind es 709 Abgeordnete.

Bald mehr als 800 Abgeordnete? Bundestag in Berlin droht immer größer zu werden – Foto: dstaerk/Gettyimages

Jahrelang gab es erfolglose Versuche, zu einer Reform zu kommen, die Bundestagspräsidenten Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble bissen sich daran die Zähne aus. Jetzt aber, ein gutes Jahr vor der nächsten Bundestagswahl, scheint Bewegung in die Sache zu kommen. Die SPD hat einen Plan vorgelegt, die CDU/CSU-Fraktion ebenso – und ausgelotet wird derzeit, ob sich beide nicht doch noch einig werden. Wenn ja, spricht viel für ein Element, das jetzt die Union vorgetragen hat, nämlich anstelle von 299 Wahlkreisen auf 280 zu kommen, also 19 weniger. Das hieße, dass in Niedersachsen zwei Wahlkreise wegfallen, statt bisher 30 wären es dann also nur noch 28.


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Der vorgeschriebene Weg ist nun so: Falls sich die Koalition in Berlin einig werden sollte, müsste schnellstens die Wahlkreiseinteilung im Bundestag neu beschlossen werden – und dazu würden vorab alle Landesregierungen um eine Stellungnahme gebeten. Eigentlich dürfen die Parteien seit dem 24. Juni bereits Bundestagskandidaten aufstellen, aber mehrere Parteizentralen in Hannover bremsen und bitten ihre lokalen Gliederungen um Geduld. Nichts wäre peinlicher, als ein aufgestellter Kandidat für einen Wahlkreis, den es nach der Reform nicht mehr geben wird. Wenn nun in Niedersachsen anstelle von 30 nur noch 28 Bundestagswahlkreise eingeteilt werden, wäre das ein riesiger Kraftakt. Da die Vorgabe besteht, dass in allen Wahlkreisen eine annähernd gleiche Zahl von Wahlberechtigten wohnen soll, sind umfangreiche Neuzuschnitte erforderlich.

Grundlage ist dafür zunächst der Bericht einer Kommission, die regelmäßig die Wahlkreisgrößen untersucht und Abweichungen vom Mittelwert bewertet. Der letzte Bericht vom Januar 2019 stellte fest, dass zwei Wahlkreise um rund 16 Prozent nach oben ausschlagen – Unterems an der Grenze zu Holland und Hannover-Land-Süd. Ein Wahlkreis weist aber in den vergangenen Jahren deutliche Bevölkerungsverluste aus, nämlich Rotenburg-Heidekreis mit minus 18,8 Prozent in fünf Jahren. Da man zwei Wahlkreis opfern müsste, läge eine Auflösung dieses Wahlkreises nah. Das Problem ist nur, dass diesen Wahlkreis 2017 ein hochrangiger SPD-Politiker überraschend gewonnen hatte, da das Gebiet eigentlich als „schwarz“ gilt, nämlich SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Will man Klingbeil das zumuten?

SPD und CDU ringen um Neuzuschnitt

Walsrode, die Heimat Klingbeils, könnte an den Nachbarwahlkreis Osterholz-Verden angegliedert werden, dort hatte 2017 die SPD-Politikerin Christina Jantz-Herrmann kandidiert, aber verloren. Der Neuzuschnitt in dieser Region berührt nun ebenso mächtige CDU-Interessen: CDU-intern gilt der Wahlkreis Harburg als tabu, das ist die Bastion des mächtigen CDU/CSU-Fraktionsgeschäftsführers Michael Grosse-Brömer. Auch der einflussreiche Cuxhavener MdB Enak Ferlemann stammt aus einem Nachbarwahlkreis. Nun dürfte im Raum Stade/Cuxhaven/Rotenburg ein Neuzuschnitt unausweichlich werden. In der CDU wird gemutmaßt, MdB Oliver Grundmann aus Stade könne um seine Neuaufstellung bangen müssen, sollte nach dem Neuzuschnitt seines Wahlkreises Stade-Rotenburg der Anteil der Gemeinden aus dem Cuxhavener Raum wesentlich größer als bisher werden. Dies könnten dann nämlich die Cuxhavener als Ermunterung zur Gegenkandidatur begreifen.

Der zweite Bundestagswahlkreis, der wegfallen könnte, liegt im Süden Niedersachsens – der Gegend, die seit langem unter dem stärksten Bevölkerungsschwund leidet. Der Blick fällt hier zunächst auf den Wahlkreis Hameln-Holzminden, der unter den südlichen Wahlkreisen die geringste Einwohnerzahl hat. Die Nachbarwahlkreise Hildesheim und Northeim/Goslar könnten Teile übernehmen, womöglich auch Nienburg/Schaumburg im Norden. Bisher wird der Wahlkreis Hameln-Holzminden im Bundestag von Johannes Schraps (SPD) vertreten, der nicht zu den bekanntesten Politikern seiner Partei zählt und deshalb womöglich der Reform wenig entgegensetzen könnte.