Darum geht es: Die Verbände der Opfer von SED-Unrecht und Stasi-Verfolgung in der DDR haben gestern im niedersächsischen Landtag über den Abschlussbericht der Enquetekommission beraten. Dazu ein Kommentar von Klaus Wallbaum.

Viele Menschen in den westlichen Bundesländern tun heute so, als gehe sie die Vergangenheit in der DDR überhaupt nichts an. Zum einen sei es schon 27 Jahre her, dass der zweite deutsche Staat aufgehört hat zu existieren, zum anderen sei die Aufarbeitung des Unrechts unter der Diktatur in Ost-Berlin doch Sache der fünf ostdeutschen Länder – denn schließlich hat die SED dort geherrscht, nicht im Westen.

Diese Sichtweise ist im mehrfacher Hinsicht unzutreffend – und die Abgeordneten im niedersächsischen Landtag haben es nicht zugelassen, dass die ignorante westdeutsche Einschätzung auch zur Leitlinie der Landespolitik in Hannover geworden ist. Im niedersächsischen Landtag wurde vielmehr eine Enquetekommission eingerichtet, die dem Wirken der Stasi im Westen, den Unterwanderungs- und Einflussversuchen des ostdeutschen Geheimdienstes auf die Spur kommen wollte. Das ist einzigartig in Westdeutschland. Außerdem gibt es im niedersächsischen Innenministerium eine Anlaufstelle, die Opfer der SED-Diktatur betreut und sich um ihre Anliegen kümmert. Auch das ist einzigartig in Westdeutschland. Niedersachsen liefert ein Vorbild – und bei allem Lob, das nun angebracht ist, folgt aus dieser Tatsache auch die Verpflichtung, sich auch künftig besonders für dieses Anliegen einzusetzen. Da liegt noch viel Arbeit.

Zunächst einmal muss mit einer Legende aufgeräumt werden: Die SED-Diktatur ist kein auf die fünf neuen Länder beschränktes Problem. Zum einen hatte die Stasi ihre Fühler auch in den Westen ausgestreckt, hier waren Spione am Werk, hier wurde versucht, Informationskanäle zu den Mächtigen aufzubauen. Viele Neuigkeiten hat die vor knapp zwei Jahren eingerichtete Enquetekommission zwar nicht zutage fördern können, es bleiben viele Fragen und Merkwürdigkeiten. Dies könnte Raum bieten für spezielle Forschungsprojekte – die Historiker in Niedersachsen sollten sich ermuntert fühlen. Zum anderen ist es ein Irrglaube, dass die Last der SED-Diktatur nur Menschen betreffe, die östlich der früheren Zonengrenze wohnen. Tatsächlich leben viele, die von der Stasi verfolgt, drangsaliert und in die Enge getrieben wurden, inzwischen im Westen, auch in Niedersachsen – weil sie aus der DDR ausgereist waren, geflohen sind oder auch nach Öffnung der Grenze 1989 ihren neuen Lebensmittelpunkt jenseits der alten DDR gesucht haben. Wie viele genau es sind, kann nur geschätzt werden – Statistiken gibt es nicht.

Wenn es heute um Wiedergutmachung geht, sind häufig die Behörden im Westen die Ansprechpartner, auch die Versorgungsämter in Niedersachsen. In der Praxis ist der dann nötige Kontakt oft schmerzhaft und enttäuschend, wie mehrere betroffene Opfer des SED-Unrechts gestern in einer Anhörung zur Arbeit der Enquetekommission des Landtags berichtet haben. Da geht es etwa um die „Opferrente“ von 300 Euro monatlich, die nur gewährt wird, wenn die Betroffenen bedürftig sind. Die Opfer-Eigenschaft ist zudem auch eingeschränkt, zumeist geht es um Menschen, die in DDR-Gefängnissen gesessen haben. Wer im beruflichen Fortkommen beeinträchtigt, ausgegrenzt oder systematisch unter Druck gesetzt und krank gemacht wurde, geht oft ganz leer aus. Die sachsen-anhaltinische Stasi-Beauftragte Birgit Neumann-Becker drückte es gestern in Hannover ganz drastisch aus: Was müssen die Gepeinigten der Stasi-Herrschaft erleiden, wenn sie heute sehen, dass ihre Opfer-Renten knapp gehalten werden, während die früheren Täter eine weit bessere Altersversorgung bekommen? Man hatte doch 1990 versprochen, dass es künftig keinem Verfolgten schlechter gehen dürfe als seinem Verfolger.

Reformbedarf gibt es schon: Ist es wirklich nötig, die „Opferrente“ von der Bedürftigkeit abhängig zu machen? Immerhin soll diese Zahlung doch Respekt und moralische Wiedergutmachung bedeuten, keine materielle Entschädigung. Dann wird geklagt, dass viele „verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden“ von den Behörden nicht als solche anerkannt werden – oft vielleicht deshalb, weil den Mitarbeitern der zuständigen Stellen wegen ihrer Unkenntnis über das SED-System ein Einfühlungsvermögen fehlt. Der nächste Punkt ist, dass besondere Rehabilitationszuwendungen nur noch gewährt werden, wenn der Betroffene mindestens 180 Tage in Haft war. Was ist mit denen, die kürzer in Bautzen gesessen haben, aber heute immer noch traumatisiert sind? Daneben ist noch viel zu tun – wie kommt die DDR im Schulunterricht vor, was ist mit der Erinnerung an das, was früher an der innerdeutschen Grenze geschah, wie steht es um die vertiefte Erforschung der Stasi-Aktivitäten? Vor allem die Vize-Kommissionsvorsitzende Heidemarie Mundlos, der frühere Bundestagsabgeordnete Hartmut Büttner und die Historikerin Daniela Münkel ließen keinen Zweifel daran, dass sie in all diesen Fragen noch viel mehr Engagement erwarten – auch vom nächsten niedersächsischen Landtag, der im Januar gewählt wird. Die Vorbildfunktion Niedersachsens sollte hier eine Verpflichtung sein.