Der Jubel kennt keine Grenzen an diesem Sonntagabend – obwohl doch sehr viele das Ergebnis schon vorausgeahnt hatten. Vor der großen Treppe im mächtigen neoklassizistischen Rathaus von Hannover, umgeben von ganz viel Marmor, hat sich eine große Menschentraube gebildet, und als sich die Resultate gegen 18.37 Uhr verfestigen, bricht sich im kleinen Raum „Leipzig“, wo die Grünen sich versammeln, die Begeisterung der Anhänger von Belit Onay Bahn: Hannover bekommt zum ersten Mal in der Stadtgeschichte einen Oberbürgermeister, der den Grünen angehört.

Es ist zum ersten Mal seit 73 Jahren auch kein Sozialdemokrat. Das Resultat kann wahrlich historisch genannt werden, denn in Deutschland gibt es nicht einmal eine Handvoll von Oberbürgermeistern mit Grünen-Parteibuch. Die meisten anderen arbeiten in Baden-Württemberg. Überdies verstärkt Onay die schmale Riege der Grünen-OBs in den Landeshauptstädten – neben ihm ist es nur noch einer, nämlich Fritz Kuhn in Stuttgart.

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Onays Sieg ist damit auch in der Geschichte der 40-jährigen Geschichte der Grünen in Deutschland ein herausragendes Ereignis. Als der Sieger gegen 19.10 Uhr die mächtige Treppe hinabschreitet, umarmt ihn erst der unterlegene CDU-Gegenkandidat Eckhard Scholz. Beide umarmen sich, und Onay nennt ihn in seinen wenigen Worten „einen ganz tollen Kerl“. Er bedankt sich „für einen äußerst fairen Wahlkampf“. Das Rathaus werde auch nicht erobert, denn „es gehört den Bürgern“.

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Schon wenige Tage vor dem großen Ereignis am Sonntag hatte der wohl prominenteste deutsche Grünen-Politiker, Robert Habeck, in einer Wahlkampf-Abschlussveranstaltung auf diesen besonderen Moment hingewiesen. „Wenn Belit gewinnt, dann ist das keine Nachricht nur für Niedersachsen oder Deutschland, sondern eine, die weit darüber hinausstrahlt.“ In diesen Zeiten, in denen der demokratische Gestaltungsraum immer kleiner werde, in denen Rechtspopulisten immer mehr Gewicht bekämen und „die Kultur der Angstmacherei“ sich breitmache, sei das etwas ganz wichtiges. Habeck sagte sogar, dass „der Faschismus Überhand“ gewinne – und bediente sich so des linksradikalen Wortschatzes aus DDR-Zeiten. Der Kandidat stand bescheiden daneben, lächelte und sagte kurz „danke“ – fast ergriffen von der besonderen Würdigung, die ihm zuteil wurde.

Ein Kandidat ohne Vergangenheit in der Stadtverwaltung

Im Wahlkampf war der 38-jährige Jurist und Landtagsabgeordnete seinem Stil treu geblieben: Er argumentiert leise und sachlich, hört aufmerksam zu, verspricht sich zu kümmern und vermeidet rhetorische Zuspitzungen oder aggressive Auftritte. Mit seinen türkischen Wurzeln kokettiert er nicht, für ihn steht die absolute Sachlichkeit und Bescheidenheit im Vordergrund. So wirkte er zuweilen etwas weniger tatkräftig und zupackend als seine beiden unterlegenen Gegenkandidaten, Marc Hansmann (SPD) im ersten und Eckhard Scholz (CDU) im zweiten Wahlgang.

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Mögen auch manche Onay wegen seiner zurückhaltenden Art und seiner mangelnden Verwaltungserfahrung als „Leichtgewicht“ bezeichnen, so sehen seine Anhänger darin einen Vorteil. Anders als Hansmann hat Onay keine Vergangenheit in der Stadtverwaltung, er hat noch niemandem geschadet oder Entscheidungen getroffen, die bei manchen Bediensteten Spätfolgen hinterlassen haben könnten. Er geht „unbelastet“ in das neue Amt. Dass er nicht in der SPD ist, die bisher immer in all ihren Ausprägungen eine Art „über allem schwebender Machtfaktor“ im Rathaus der Landeshauptstadt war, verschafft ihm vielleicht sogar neue Freiheiten. Er muss höchstens auf die eigene Partei Rücksicht nehmen – doch die ist erst einmal heilfroh, überhaupt mal den OB stellen zu können.

Seine Chancen sind zugleich seine Risiken

Onays Chancen sind allerdings zugleich auch seine Risiken. Ohne den Rat, in dem bisher eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP agiert, wird er in den kommenden Wochen wichtige Entscheidungen – etwa über die neuen Dezernenten für Personal/Kultur und Bau – nicht treffen können. Der OB schlägt Kandidaten vor, der Rat muss sie wählen. Für Onay kommt es darauf an, die bestehende Koalition zu sichern: Die nach der Hansmann-Niederlage desorientierte und kopflose SPD muss bei der Stange bleiben.

Die FDP, die zur Wahl von Scholz aufgerufen hatte, muss es auch. Als Alternative denkbar wäre allenfalls eine Kooperation von SPD, CDU und Grünen. Als Moderator wird Onay gefordert sein, aber nicht nur. Da sein Vorgänger Schostok im Ruf stand, die Rathausarbeit wenigen Getreuen zu überlassen und schwierige Entscheidungen unendlich hinauszuzögern, wird von Onay hier jetzt beides erwartet: Mehr Kompromiss- und mehr Entscheidungsbereitschaft.

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Ein paar andere große Aufgaben kommen auch noch auf den OB zu: Erstens muss er die Abläufe der Verwaltung, die als zu zögerlich, zu bürokratisch und zu umständlich beschrieben werden, auf Vordermann bringen. Da ist tatsächlich Führung notwendig, und hier geht es um das laufende Geschäft im Rathaus, bei der ihm der Rat nicht hineinreden darf. Wenn der OB Missstände in Dezernaten abstellen will, muss er das Gespräch – und auch den Konflikt – mit den Dezernenten suchen müssen. Wenn die sich weigern, muss er die Autorität seines Amtes einsetzen, einen Schritt, den Schostok nie gewagt hatte. Kann Onay das? Die Gefahr, die auf ihn lauert, ist so zu beschreiben: Einige in der Stadtverwaltung könnten versuchen, seine Unerfahrenheit auszunutzen und ihm Vorlagen unterzuschieben, die eine nähere Überprüfung nicht standhalten. Aber wer prüft dann in Onays Namen?

Die Chancen für einen neuen OB, einen Stab von Mitarbeitern in seine engere Umgebung zu setzen, sind sehr gering. Ohne den guten Willen des Rates – und des Personalrates – sind notwendige Entscheidungen zur Stärkung des OB-Büros wohl kaum zu machen. Auch hier muss der neue OB letztlich auf die Überzeugungskraft seines Auftretens setzen. Wie der Grünen-Landtagsabgeordnete Christian Meyer einräumt, ist die Lage für Onay so schlecht aber nun auch wieder nicht. Seit mehr als 30 Jahren gibt es eine rot-grüne Kooperation in der hannoverschen Stadtverwaltung, die Stadträtin Sabine Tegtmeyer-Dette als derzeitige Interimschefin des Rathauses ist auch Grünen-Mitglied. Einsam und verlassen also ist Onay nicht, denn es gibt mehr als nur ihn als grünen Flecken in der tief sozialdemokratisch geprägten hannoverschen Stadtverwaltung.

Ende November tritt er sein Amt an

Vielleicht hilft es Onay sogar, dass das Besondere seiner Biographie ihn rasch bundesweit zum Politstar machen kann. Er ist der erste OB mit Migrationshintergrund in einer deutschen Großstadt. Onay wuchs als Kind einer Gastarbeiterfamilie in Goslar auf, seine Eltern hatten ein Lokal betrieben, zuhause wurde nicht deutsch, sondern türkisch gesprochen. Dass seine Nachbarin, eine alte Dame, und die Erzieherinnen im Kindergarten konsequent deutsch sprachen, haben seiner Integration sehr geholfen, sagt Onay und fügt scherzhaft hinzu: „Heute versteht man mich, glaube ich, relativ gut.“

Wenn jemand aber ein Politstar ist, also jemand, der sich wegen seiner Biographie und der Art des Auftretens großer Beliebtheit erfreut, dann fällt ihm vermutlich auch die tägliche Verwaltungsarbeit leichter – weil man ihn als stark empfindet. Einen Rat dazu hat in Hannover Robert Habeck parat, der einst als Schriftsteller, ohne jegliche Verwaltungskenntnis, zum Agrar- und Umweltminister in Schleswig-Holstein aufgestiegen war und in dieser Rolle ausgesprochen anerkannt war. „Wenn ich als Minister Fehler von Mitarbeitern verziehen habe, erkannte sie, dass sie auch mir Fehler nachsehen konnten. Sie waren loyal zu mir, so wie ich auch loyal zu ihnen war.“

Ob das schon reichen wird, der hannoverschen Stadtverwaltung neuen Schwung zu geben, wird Onay bald sehen. Sein Amt wird er Ende November antreten. (kw)