Im Herbst, soviel steht jetzt schon fest, werden sich die politischen Versammlungen häufen wie selten zuvor. Nach Ende der Sommerferien dürften Parteitage, Delegiertentreffen, Kongresse und Fachkonferenzen in Hülle und Fülle angeboten werden – vorausgesetzt, das Corona-Virus hat bis dahin in Deutschland keine zweite Welle gezeigt. Zu den Terminen, die im Frühjahr abgesagt werden mussten und dann nachgeholt werden, kommen die hinzu, die ohnehin ab September sein sollten. Ein Risiko bleibt allerdings, denn bei einem Wiederanstieg der Infektionszahlen mit Beginn der kalten Jahreszeit könnte die einzig wirksame Abwehrmaßnahme darin bestehen, erneut ein Verbot von Großveranstaltungen zu verfügen. Dann würde sich die bange Frage stellen: Muss die Politik über kurz oder lang gezwungenermaßen ihre Kommunikation verändern? Werden Online-Parteitage, wie sie kürzlich die CSU mit lauter medialer Begleitmusik erprobt hat, zum Regel- statt zum Ausnahmefall werden?

Videokonferenzen: Kein Ort für Inspiration

Schon jetzt erfährt die Politik eine gravierende Änderung gegenüber früher, denn viele Gremien in überschaubarer Größe – Parteivorstände, Stadtratsfraktionen, Fachausschüsse – nutzen die Form der Videokonferenzen, um eine Verständigung über anstehende Schritte zu erzielen. Dieses Mittel eignet sich vor allem dann, wenn der Kreis der Teilnehmer überschaubar bleibt, also eine Größe von zehn oder 15 Mitgliedern nicht unbedingt überschreitet. Wichtig ist die Leitung oder Moderation solcher Konferenzen, denn von ihr hängt es maßgeblich ab, ob alle Teilnehmer eine ausreichende Gelegenheit zur Mitwirkung haben oder nicht.

Fotos: MB/kw

Als Ort der Inspiration und Kreativität bewähren sich Videokonferenzen aber wohl weniger. Solange die Teilnehmer direkt zusammengekommen sind, hat es immer vor und nach solchen Treffen noch Gelegenheit zu Vier- oder Sechs-Augen-Gesprächen gegeben, manchmal auch zufällige Kontakte, die für die Lösung einer Aufgabe oder die Planung eines neuen Projektes extrem wichtig waren. Außerhalb des Rahmens solcher Sitzungen müssen sich derartige Kontakte auf Telefonate oder separate Besprechungen beschränken. Das heißt aber auch, dass ein Teil derjenigen, die theoretisch spontan hinzugezogen werden könnten, dabei außen vor bleiben muss.

Wie soll nun ein Meinungsbild entstehen?

Noch weitere Nachteile sind damit verbunden, wenn größere Veranstaltungen wie Parteitage, Klausurtagungen oder Mitgliederversammlungen nicht stattfinden können. Wenn schon auf Ebene der Ortsvereine und Kreisvorstände eine interne Abstimmung über den eingeschlagenen Weg deshalb schwerer fällt als bisher, weil viele Treffen vorher wegen der Corona-Beschränkungen gar nicht hatten stattfinden können, dann verschärft sich dieser Mangel eine Ebene höher noch: Wie sollen sich die Delegierten eines bestimmten Kreisverbandes bei anstehenden Entscheidungen auf Landesebene so verhalten, dass sie die Ansicht ihrer Basis vertreten, wenn diese Basis vorher gar kein eigenes Meinungsbild herstellen konnte?

Als Beispiel sei hier die Entscheidung über den nächsten CDU-Bundesvorsitzenden erwähnt, die eigentlich Ende April hätte fallen sollen und nun auf Dezember vertagt wurde. Man kann, wie die SPD es im vergangenen Jahr exerziert hat, die Entscheidung einer Urwahl der Mitglieder überlassen. Doch dass die SPD vor dieser Phase eine Fülle an Regionalkonferenzen vorgeschaltet hatte, in denen die Kandidaten-Duos zu allen möglichen Themen befragt werden konnten, hatte einen sehr berechtigten Grund: Es musste sich in den Zusammenkünften vieler SPD-Mitglieder ein Meinungsbild herausschälen, eine Art Trend, der sich nicht allein an inhaltlichen Positionen und an Sympathien oder Antipathien orientierte, sondern mit Aura und Charisma zu tun hatte. Die Partei musste Gelegenheit bekommen, sich hier bestimmten Kandidaten stärker als hinter anderen zu versammeln. Ob das nun bei der SPD gut geklappt hat, sei dahingestellt, der Ansatz jedenfalls war richtig.

Wie soll aber ein solches Meinungsbild in einer Partei entstehen können, wenn – bei ungünstigem Verlauf des Corona-Virus und einem fortgesetzten Verbot von Großveranstaltungen – die Erfahrung einer Versammlung vieler Parteimitglieder fehlt? Wie soll ein Delegierter vor seiner Wahlentscheidung beurteilen können, auf welche Weise ein Kandidat in einer großen Gruppe wirkt, wie charismatisch er auftritt und wie geschickt er die Stimmung im Saal aufnehmen oder gar steuern kann, wenn kein Kandidat diese Bewährungsprobe bestehen darf?

Die Auswahl klappt, doch das Ergebnis ist ein anderes

Solche Meinungsbildungen auf Parteitagen im Vorfeld einer großen wichtigen Personalentscheidungen sind allerdings vielfältiger. Es geht nicht allein um die Frage, welcher Kandidat dort überzeugender, geschickter und rhetorisch begabter auftritt, es geht um eine Vielzahl von Einflüssen. Der Regionalproporz spielt eine Rolle, auch die Absprache unter bestimmten Regionalverbänden nach dem Motto: Wenn Du meinen Kandidaten wählst, unterstütze ich Deinen. Inhaltliche Positionen in wichtigen Streitfragen sind von Belang, ebenso Stilfragen und Teamfragen mit Blick auf die Gruppe, die im Zuge eines Erfolgs neue Positionen übernehmen dürfte. Ein ganz wichtiger politischer Faktor ist die Fähigkeit der Akteure, auf solchen Parteitagen die komplexen Herausforderungen erkennen und darauf schnell und sicher – also instinktsicher – reagieren zu können. Fehlen die Großveranstaltungen, so klappen politische Auswahlprozesse zwar auch. Aber ob die siegreichen Kandidaten dann tatsächlich gestählt sind durch die harte Schule der innerparteilichen Demokratie, darf doch in Frage gestellt werden.

Ein Beispiel liefert der französische Präsident Emmanuel Macron, der im Fernsehen charismatisch wirkte und ein großes Bedürfnis nach Erneuerung ausdrückte. Ihm gelang es, diese im Volk verbreitete Stimmung in eine Bewegung umzuformen, die erfolgreich wurde und die Machtbasis für den neuen Präsidenten sicherte. Allmählich zeigt sie, wie vergänglich dieser Erfolg war. Die überlieferten Parteistrukturen mit gegenseitigen Verflechtungen, Absprachen und auch Seilschaften, die sich nur in traditionellen Parteien und in ihren großen Versammlungen und Zusammenkünften herausbilden können, bieten dem politischen Anführer in seiner Schwächephase auch den Schutz gegen einen abrupten Sturz in die Tiefe. Ob Macron diesen Schutz noch hat, darf bezweifelt werden. Und ob die Politiker in Deutschland fest genug im Sattel sitzen, wenn sie sich als Folge des bösen Corona-Virus nicht mehr auf erfolgreiche Parteitage und ein austariertes parteipolitisches Machtgerüst stützen können, ist auch alles andere als sicher. (kw)