PRO: Das Grundgesetz ist ein wichtiger Teil der deutschen Leitkultur, aber es gibt nicht Antwort auf alle in diesem Zusammenhang wichtigen Fragen. Daher ist eine Debatte über Werte, Normen und Bräuche sinnvoll – sonst überlassen wir das Feld den Populisten von rechts oder links, meint Klaus Wallbaum.

Thomas de Maizière hat es nun wirklich nicht leicht. Er kann sagen, was er will – immer bekommt er heftigen Gegenwind. Seine zehn Thesen zur „deutschen Leitkultur“ werden von Kritikern zerrissen. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sagte, man brauche „keinen Innenminister, der folgenlose Debatten anstößt“. Diese Aussage ist für Lindner entlarvend: Erstens unterstellt er, der Diskussionsanstoß werde ins Leere laufen, was eine gewagte These ist. Zweitens greift der FDP-Vorsitzende die Funktion von de Maizière an. Liegt es also daran, dass sich hier der Bundesinnenminister geäußert hat, derjenige aus der Bundesregierung, der kraft Amtes am Stärksten das Image des hoheitlichen Amtsträgers verkörpert? Hätte sich vielleicht lieber ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, ein früheres Staatsoberhaupt (Joachim Gauck?) oder ein Kirchenvertreter zu Wort melden sollen?

Facebook

Mit dem Laden des Beitrags akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Facebook.
Mehr erfahren

Beitrag laden

Vielleicht ist es so, aber weil die deutschen Intellektuellen derzeit wenig motiviert scheinen, eine Debatte um die Leitkultur anzuzetteln, übernahm de Maizière eben diese Rolle. Und er hat es nicht schlecht getan. Der CDU-Politiker hat aufgeschrieben, was viele Menschen als „typisch“ für unsere Gesellschaft halten: Offenheit, Toleranz, Gleichberechtigung der Geschlechter, Hilfe für Hilfsbedürftige, Leistungsorientierung und Geschichtsbewusstsein, Pflege des Kulturgutes, Verankerung im demokratischen Westen, Schutz der Minderheiten und der Kompromiss als erstrebenswertes Ziel in der Konfliktlösung. Wer wollte da nicht unterschreiben? Der Minister fügte noch ein paar Dinge hinzu, die bei einigen linken Zeitgenossen keinen Applaus finden, nämlich die Sitten und Bräuche. Dass man sein Gesicht zeige und seinen Namen nenne, sich also nicht verhülle oder vermumme. Dass man sich die Hand gebe zur Begrüßung. Dass ein entspanntes Verhältnis von Staat und Kirche ebenso dazugehöre wie Patriotismus und Verehrung für die Nationalhymne und die Nationalfarben schwarz, rot und gold. Prompt waren Hohn und Spott die Reaktion, etwa in den Feuilletons – beispielsweise der HAZ.

Twitter

Mit dem Laden des Tweets akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Twitter.
Mehr erfahren

Inhalt laden

Wieso in den zehn Thesen „pure rechte Stimmungsmache“ stecken soll, wie es der Grünen-Politiker Jürgen Trittin sagte, bleibt wohl Trittins Geheimnis. SPD-Chef Martin Schulz meint, die ersten 20 Artikel im Grundgesetz seien „eine sehr gute Richtschnur“ für das Zusammenleben hierzulande. Daran müsse sich jeder halten. Andere verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff „Verfassungspatriotismus“ und meinen, aus den Grundwerten im Grundgesetz folge eine kulturelle Leitlinie, es handele sich bei der Verfassung keineswegs um ein „blutleeres Konstrukt“. Dem ist gar nicht zu widersprechen, denn tatsächlich sind die Achtung vor der Würde und freien Entfaltung jedes Menschen, die freie Meinungsäußerung, das Asylrecht, die Glaubensfreiheit, der Schutz der Familie und das Eigentumsrecht, um nur einige zu nennen, wesentliche Grundlagen der Leitkultur. De Maizière hat das auch nicht verneint. Die wesentliche Frage ist nur, ob der Hinweis ausreicht  – oder ob das Grundgesetz als Rechtsnorm nicht an vielen Punkten zu allgemein, zu wertindifferent ist und deshalb ergänzt werden müsste. Das kann nicht in Form eines „Leitkultur-Gesetzes“ geschehen, denn soetwas wäre Unsinn. Sinnvoll ist es jedoch, darüber zu diskutieren, was unsere Gesellschaft ausmacht und prägt. Dazu sind die zehn Thesen des Innenministers ein wertvoller Beitrag. Eben nicht als Vorgabe, sondern als Gedankenanstoß.

Bleiben wir bei den Sitten und Bräuchen: Die Verschleierung abzulehnen, das offene Visier zu befürworten und den Kompromiss über pure Machtpolitik zu stellen – das sind Botschaften, wie sie nicht zwingend aus den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes herausgelesen werden können. Der hohe Wert der Allgemeinbildung und die Akzeptanz des Existenzrechts Israels, ebenso von de Maizière erwähnt, sind auch keine Maßstäbe, die sich aus den Grundrechten im Grundgesetz ergeben. Allerdings ist die Frage schon erlaubt, ob man über diese Fragen überhaupt reden muss – oder ob sie nicht ohnehin klar und allgemein akzeptiert sind, dass man sich die Debatte darüber auch sparen könnte.

Natürlich tritt de Maizière nicht im luftleeren Raum auf, natürlich sitzen auch ihm die Rechtspopulisten etwa von der AfD im Nacken, die drauf und dran sind, mit einer eigenen Wertedebatte zu starten. Ein Beispiel ist das Landtagswahlprogramm in Niedersachsen, das stellenweise reaktionären Geist atmet. Nur: Es wäre ein großer Fehler, diesen Kräften die Diskussion streitlos zu überlassen. Sie könnten bei fehlenden Widerworten ihre Positionen so herausbilden, dass sie in einem Diskurs über die Leitkultur tonangebend werden. Das aber darf nicht geschehen.

Mail an den Autor dieses Kommentars

 

CONTRA: Dass in Deutschland alle paar Jahre immer wieder kurz und heftig über den Begriff der Leitkultur diskutiert wird, sagt mehr über die fragile Verfasstheit der Deutschen als über den Stand der Integration aus, meint Martin Brüning.

Geht es hier um eine ehrliche, tiefgründige Debatte oder einfach nur um Wahlkampf? „Ich will mit diesen Thesen zu einer Diskussion einladen“, schrieb Bundesinnenminister Thomas de Maizière in der Bild am Sonntag, aber allein der Zeitpunkt, an dem er zu dieser Diskussion einlud, lässt andere Motive erahnen. Nur kurz vor den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen und viereinhalb Monate vor der Bundestagswahl erinnert die boulevardeske Überschrift „Wir sind nicht Burka“ eher an Roland Kochs Doppelpass-Kampagne in Hessen Ende der 90er Jahre. Dass in Deutschland alle paar Jahre immer wieder kurz und heftig über den Begriff der Leitkultur diskutiert wird, sagt mehr über die fragile Verfasstheit der Deutschen als über den Stand der Integration aus. Wer sind wir und wenn ja, wie viele?

Nicht alles, was im Wahlkampf-Leitkultur-Papier des Bundesinnenministers steht, ist Nonsens. Natürlich gibt es einen Kernbestand an Werten, der unverhandelbar ist. Diese Werte lassen sich zum Beispiel auf der Internetseite des Bundestags hier nachlesen, denn es handelt sich dabei um das Grundgesetz. Der Philosoph Jürgen Habermas hält den Begriff der Leitkultur deshalb auch nicht im Einklang mit unserem liberalen Grundrechtsverständnis. Deutschland hat eine Verfassung der Freiheit, ein Grundgesetz des Liberalismus und nicht des Patriotismus.

Es ist nicht überraschend, dass die Leitkultur-Definitionen des Innenministers nicht überzeugen. Denn während die Gesellschaft schon viel weiter ist, bleiben de Maizières Vorstellungen im politischen Biedermeier. „Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“, schreibt er und lässt einen damit etwas ratlos zurück. Sind Begrüßungen wie die herzliche Umarmung oder ein kurzes Abklatschen mit den Handflächen jetzt schon ein Kulturbruch? Oder sollten sich Frankophile mit den (oftmals drei!!) Küsschen auf die Wangen jetzt einmal gefälligst zurückhalten und die deutsche Leitkultur beachten?

„Wir sind nicht Burka“, das klingt nicht nur stark nach Populismus, es definiert auch noch lange nicht, was wir eigentlich sind. Sind wir Bier, BMW und Bunsenbrenner? Sind wir weiße Socken in Sandalen? Sind wir etwa „Trappenjagd“? Die Realität ist, dass Deutschland im Jahr 2017 so vielfältig ist, dass es auf einem Papier nur schwer zusammengefasst werden kann – erst recht nicht durch Grundsätze der Piefigkeit. Natürlich können wir uns mit unseren subventionierten Theatern und Opern immer noch als Kulturnation betrachten, und dafür Autoren zitieren, die seit Jahrhunderten unter der Erde sind. Fakt ist aber auch: Neben Bertolt Brecht gehört Bibis Beauty Palace heute nun einmal genauso zu unserer Kultur dazu.

Twitter

Mit dem Laden des Tweets akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von Twitter.
Mehr erfahren

Inhalt laden

Die Diskussion über eine Leitkultur, wenn sie denn ehrlich gemeint wäre, führt in eine falsche Richtung. Natürlich gibt es in diesem Land Menschen, die sich kulturell abschotten und die nur schwer zu integrieren sind. Das ändern wir aber nicht mit einer Diskussion, die nur akademisch tut, in Wirklichkeit aber äußerst banal ist. Stattdessen würde es zunächst einmal reichen, zwei Regeln politisch anzugehen und umzusetzen. 1. Sozialer Aufstieg sollte für alle möglich sein, unabhängig von Hautfarbe und Geldbeutel. Wenn Ahmed und Kevin in der ersten Klasse dieselben Chancen haben wie Anna und Jonas, brauchen wir keine Diskussion über eine Leitkultur. 2. Der Staat muss sein Gewaltmonopol durchsetzen und darf keine No-go-Areas zulassen. Wenn Aaron mit Kippa angstfrei durch Berlin-Neukölln laufen kann, brauchen wir keine Leitkultur.

Es wird herausfordernd genug sein, allein diese beiden Punkte konsequent anzupacken. Damit haben wir schon genug zu tun. Für eine fadenscheinige Debatte über eine Leitkultur wird dabei gar keine Zeit mehr sein.

Mail an den Autor dieses Kommentars