Eine breite Mehrheit der Deutschen versteht das Wahlrecht nicht. Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts pollytix ergab, dass gerade einmal 28 Prozent der Wahlberechtigten Erst- und Zweitstimme zuordnen können. Sollte das Wahlrecht vereinfacht werden? Ein Pro & Contra von Martin Brüning und Klaus Wallbaum.

Pro & Contra: Klaus Wallbaum (li.) & Martin Brüning

PRO: Menschen statt Mathematik: Die Rückkehr zum Einstimmensystem würde das Wahlrecht vereinfachen, Abgeordnete stärken und Politikverdrossenheit mindern, meint Martin Brüning.

Vom Grundgedanken her ist das deutsche Wahlrecht fair und ausgewogen. Die 299 Wahlkreise bei einer Bundestagswahl ergeben 299 Direktkandidaten. Hinzu kommen noch einmal 299 Abgeordnete über die Landeslisten. Die Fünf-Prozent-Hürde verhindert eine Zersplitterung der Parteienlandschaft im Bundestag. Auch wenn die Koalitionsbildung nach der vergangenen Bundestagswahl schwierig war, sind die Probleme in anderen Ländern mit stark heterogenen Parlamenten noch weitaus größer. Dennoch werden die Schwächen des deutschen Systems immer deutlicher. Eines der Probleme ist der deutsche Gerechtigkeitssinn. Im Wahlrecht wird er durch das Überhangmandat symbolisiert. Durch Überhangmandate können sogar Parteien Sitze gewinnen, die prozentual bei einer Wahl eigentlich verloren haben. Abseits der negativen Korrelation zwischen Stimmen und Mandaten führt der Ausgleich in dieser Legislaturperiode zu einem Bundestag in xxl-Größe. Keine Frage: Wir sollten uns die Demokratie etwas kosten lassen. Aber der Aufwuchs auf 709 Abgeordnete macht dieses Land nicht demokratischer. Das ist auch keinem Wähler mehr zu erklären.

Hinzu kommt, dass die breite Mehrheit das Wahlsystem gar nicht versteht. Das sogenannte „uninformierten Elektorat“ scheitert nicht erst an der Berechnung der Überhangmandate, das Problem beginnt bereits in der Wahlkabine. Nun könnte man argumentieren, dass man vom Staatsbürger erwarten kann, sich über die Grundprinzipien der Demokratie zu informieren, bevor er seine Stimme abgibt. Es geht aber auch andersherum: Wenn Politik ständig Transparenz predigt, sollte sie auch Transparenz leben. Und das fängt beim überkomplexen Wahlrecht an, welches nach Jahrzehnten einfach an die Zeit angepasst werden könnte. Bei der Wahl 1949 wurde in Deutschland mit einer einzigen Stimme Partei und Kandidat gewählt. Der Weg zurück ist der Weg nach vorne: Deutschland braucht die Rückkehr zum Einstimmensystem.

Die Bürger hätten sich bereits an Erst- und Zweistimme gewöhnt, argumentiert man gerne in der Politik. Allerdings haben wir uns auch daran gewöhnt, dass es ab und zu stürmt und regnet und finden es trotzdem besser, wenn die Sonne scheint. Im Gegensatz zum Wetter lässt sich das Wahlrecht allerdings ändern und verbessen. So wäre es in den Wahlkreisen besser, den Kandidaten in den Mittelpunkt zu stellen. Das würde nicht nur durch selbstbewusstere Abgeordnete zu einer Stärkung des Parlaments führen, sondern auch zu einer stärkeren Bindung zwischen dem Wahlkreis und seinem Vertreter im Parlament. Hinzu kommt die Skepsis, die inzwischen den Parteien entgegengebracht wird. Die einzelne Abgeordnete könnte wichtiger werden als das Parteibuch in seiner Tasche. Mit starken Kandidaten hätten auch kleine Parteien die Chance, im Parlament vertreten zu sein. Robert Habeck, Christian Lindner und Sarah Wagenknecht säßen wohl auch mit einem Einstimmensystem im Bundestag.

Das neue Wahlrecht sollte Menschen statt Mathematik in den Mittelpunkt einer Wahl stellen. Das könnte auch ein gutes Mittel gegen Politikverdrossenheit sein. Viele Wähler wissen häufig nicht, welche Haltung es in der CDU zu einem Thema gibt. Viel mehr Menschen wissen aber, was Wolfgang Bosbach darüber denkt. Durch ein einfaches Wahlrecht bekäme Deutschland im besten Fall mehr starke Abgeordnete.

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CONTRA: Das System von Erst- und Zweitstimme, das wir bei der Bundestags- und auch bei der Landtagswahl haben, ist völlig richtig. Wenn man es nicht hätte, müsste man es erfinden. Das heißt aber nicht, dass man hier nicht noch nachbessern müsste, meint Klaus Wallbaum.

Politische Auswahlprozesse sind nicht so populär wie Kampfszenen beim Fußball. Deshalb dürfte man im Zweifel mehr Leute finden, die jedes Abseits im Länderspiel erklären können als solche, die das Verhältnis von Erst- und Zweitstimme bei den Wahlen verstehen und zu erläutern imstande sind. Trotzdem sind Fußballspiele selbst bei Leuten beliebt, die zuschauen, ohne die DFB-Spielregeln zu kennen. Und trotzdem sind auch die Wahlbeteiligungen bei Landtags- und vor allem Bundestagswahlen ansehnlich, wenn auch nicht mehr so gewaltig wie in den siebziger Jahren – und das, obwohl damals schon im Wesentlichen die Vorschriften galten wie heute. Wer heute behauptet, politische Entscheidungsprozesse seien immer komplizierter und immer abstoßender geworden, spricht die Unwahrheit aus. Es hat sich im Grunde am Regelwerk seit Jahrzehnten nichts geändert, und abschreckend ist es deshalb keineswegs.

Ist es deshalb schon gut so, wie es ist? Nein, sicher nicht. Gut ist die Aufteilung in Erst- und Zweitstimme aus anderen Gründen. Mit diesem System wird es erlaubt, die Vorzüge von zwei unterschiedlichen Wahlsystemen miteinander zu verknüpfen. Da ist zum einen das Verhältniswahlsystem: Landesweit werden bei der Landtagswahl die Stimmen gezählt und anhand der prozentualen Verteilung für alle Parteien, die über fünf Prozent der Stimmen liegen, die Mandate vergeben. Damit können auch kleinere Parteien wie FDP und Grüne angemessen zum Zuge kommen. Die Zweitstimme entscheidet die Kräfteverhältnisse im Landtag, sie ist die wichtigere Stimme. Daneben aber gibt es noch Wahlkreise, derzeit 87 im Landtag, in denen der Abgeordnete gewählt ist, der die meisten Stimmen erreicht hat. Das sind in der Praxis meistens nur Kandidaten von SPD oder CDU, weil diese landesweit die beiden stärksten Gruppierungen sind. Jeder Wahlkreis-Sieger hat sein Landtagsmandat sicher, aber es wird angerechnet auf das Kräfteverhältnis der Parteien nach dem Zweitstimmenergebnis. Wenn eine Partei nun mehr Erststimmen-Mandate hat, als ihr nach dem Zweitstimmenresultat insgesamt an Mandaten zustehen, gibt es Überhangmandate. Den anderen stehen dann eventuell Ausgleichsmandate zu, damit das Kräfteverhältnis nach den Zweitstimmen wieder stimmt.

Was ist gut an diesem Modell? Erstens gewährleistet das Verhältniswahlrecht, dass auch kleine Gruppierungen im Parlament vertreten sind und sich nicht alles auf nur zwei große Lager (wie beispielsweise Tories und Labour in Großbritannien) konzentriert. Zweitens wird in jedem Wahlkreis, also im unmittelbaren Wohnumfeld jedes Wählers, ein Abgeordneter gewählt, der dann vorwiegend die regionalen Interessen vertreten soll – neben den über die Listen in die Vertretung gelangten Politiker, die eine solche regionale Anbindung nicht zwingend haben müssen. Zugegeben: Es gibt Wahlkreisabgeordnete, die sich wenig um den Wahlkreis kümmern – und Listenabgeordnete, die ganz emsig in ihrer Heimatregion unterwegs sind. Aber mit dem Wahlrecht und der Einteilung wird immerhin der Anspruch vermittelt, dass die Landtagsabgeordneten beides beherzigen sollen, die regionale Arbeit wie die politische Arbeit für ihre Fraktion. Mit nur noch einer Stimme fiele das weg, entweder würde man das Mehrheitswahlrecht nach britischem Modell fördern oder ein Verhältniswahlrecht, das eben keine Wahlkreise mehr kennt.

Das System ist so schon ganz gut. Aber man kann es verbessern. Ausschlaggebend sollte die Frage sein, ob die Volksvertreter tatsächlich die geeigneten Repräsentanten der Repräsentierten sind. Das lenkt zu den Vorauswahlprozessen der Parteien auf ihren Landeslisten und in ihren Wahlkreiskonferenzen. Werden die richtigen Leute aufgestellt? Es darf schon so sein, dass die gebildeteren eher zum Zuge kommen sollten, denn Politiker sollten ein Geschick in Kommunikation und im Verstehen komplizierter Gesetze und Entscheidungsprozesse haben – das setzt, unabhängig von Schichten, Berufsgruppen und Lebensläufen, ein gewisses Maß an Bildung voraus. Immer wieder wird nun beklagt, dass zwar in mancher Hinsicht eine Vielfalt unter den Abgeordneten durchaus vorhanden ist, in einer aber nicht – es gebe, heißt es, einen dramatischen Mangel an weiblichen Volksvertretern. 27,7 Prozent sind es im Landtag derzeit, obwohl die Hälfte der Wählerschaft aus Frauen besteht.

Wie ließe sich das nun ändern? Aus Kreisen der CDU-Frauen wurde jüngst ein Vorschlag unterbreitet, der gar nicht schlecht klingt. Erstens wäre für alle Parteien auf den Landeslisten das Reißverschlussverfahren vorgeschrieben – auf jeden Mann müsste zwingend eine Frau folgen, so wie es bei mehreren Parteien heute schon üblich ist. Zweitens müsste man die 87 Wahlkreise zusammenlegen auf 43, und in jedem Wahlkreis würde mit der Erststimme sowohl ein männlicher als auch ein weiblicher Kandidat ein und derselben Partei gewählt. So hätte man Vorkehrungen geschaffen, dass die Hälfte des Parlaments aus Frauen bestünde. Diese Idee klingt gar nicht schlecht. Wenn man Frauenförderung wirklich ernsthaft betreiben will, wäre das ein effektiver Schritt dazu.

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