Ist der Sozialstaat, wie wir ihn seit Jahrzehnten kennen, in dieser Form noch aufrecht zu halten? „Ich bezweifele das“, sagt Prof. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts (BSG). In einer Fortbildungstagung des Landessozialgerichts Niedersachsen hat der oberste deutsche Sozialrichter über die Herausforderungen und Gefahren der aktuellen staatlichen Ordnung referiert. Gleichzeitig nannte er mehrere Forderungen, die aus seiner Sicht das System stabilisieren könnten. „Offen wird in der Politik über diese Frage nicht diskutiert. Denn jeder Politiker, der wiedergewählt werden möchte, meidet diese Themen eher“, sagte Prof. Schlegel. Das seien nämlich „nur Hiobsbotschaften“.

Prof. Rainer Schlegel (von links), Richter Sebastian Westermeyer und Gerichtspräsidentin Katrin Rieke vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen. | Foto: Wallbaum

„Die Kosten für die Investitionen in die Infrastruktur und die Verteidigung nehmen enorm zu, die Belastungen der Bürger wachsen auch. In einer solchen Situation wird es nicht mehr unangefochten hingenommen werden, dass 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Sozialausgaben verwendet werden“, betonte der Gerichtspräsident. Daher müsse man sich Gedanken machen, „wie wenigstens der Kern des Sozialstaates dauerhaft erhalten bleiben kann.“ Nach seiner Darstellung verschlingen Sozialausgaben für Renten-, Krankenversicherung und andere Sozialsysteme in Deutschland jährlich 750 Millionen Euro, das liege etwa auf dem Niveau der vom Staat insgesamt kassierten Steuereinnahmen.

Auf einen Rentner kommen bald nur noch 1,15 Erwerbstätige

Auch wenn aktuelle Zahlen der Deutschen Rentenversicherung (DRV) die bevorstehenden Probleme der Altersversorgung weniger drastisch sehen, weist Schlegel auf ein Grundsatzproblem hin: Gegenwärtig kämen auf einen Rentner noch 1,18 Erwerbstätige, im Jahr 2030 werde der Wert aber bei 1 zu 1,15 liegen. „Auch wenn der Fokus der Debatte auf der Rentenversicherung liegt, würde ich hier bei Reformen aber nicht zuerst anknüpfen“, sagt Schlegel und erläutert, dass die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters an Grenzen stoße – und das deutsche Rentenniveau könne man nicht kürzen, da es im europäischen Vergleich schon im unteren Drittel liege. Sonder-Vorgaben aber wie die „Rente mit 63“ würde er „sofort streichen“, fügt Schlegel hinzu – da „die Rente mit 63 den momentanen Fachkräftemangel mitverursacht hat“.

„Die Tatsache, dass der Gesetzgeber immer wieder Leistungen verspricht, die er nicht halten kann, ist ein Grund dafür, dass die AfD mittlerweile in Umfragen die SPD eingeholt hat.“

Prof. Rainer Schlegel, BSG-Präsident
Prof. Rainer Schlegel ist seit Oktober 2016 Präsident des Bundessozialgerichts (BSG). Er ist auch Honorarprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen. | Foto: Wallbaum

Mehr Reformbedarf sehe er in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dass die Bundesländer die Investitionen in Krankenhäuser seit vielen Jahren vernachlässigten, sei ein Grundübel. „Dann holen sich die Kliniken das Geld eben von den Kassen.“ Problematisch sei die beschlossene Reform zur Ausweitung der Leistungen in der Pflegeversicherung. „Ich weiß doch jetzt schon: Das neue Gesetz wird personell und finanziell gar nicht umgesetzt werden können“, sagt Prof. Schlegel und fügt hinzu: „Die Tatsache, dass der Gesetzgeber immer wieder Leistungen verspricht, die er nicht halten kann, ist ein Grund dafür, dass die AfD mittlerweile in Umfragen die SPD eingeholt hat.“

Die Ganztagsbetreuung in Schulen, die gute Kindergartenversorgung und der Plan zur Kindergrundsicherung seien andere Beispiele für solche Versprechen, die wirklichkeitsfern klängen. Das neue Wohngeldgesetz sei viel zu kompliziert und könne nur mit erheblicher Verzögerung umgesetzt werden, weil den Kommunen dafür die Fachleute fehlten. Und wenn die Bundesfamilienministerin den Vätern einen Freizeitanspruch rund um den Geburtstermin der Kinder garantieren wolle, dann solle das zu Lasten der Arbeitgeber gehen – und das sei ebenfalls problematisch.

Steuerfreier Zuverdienst von bis zu 2000 Euro für Rentner?

Prof. Schlegel nennt nun mehrere Schritte, mit denen der Sozialstaat reformiert werden könnte. So wäre es denkbar, das Ehegattensplitting abzuschaffen – damit mehr Frauen animiert werden, von Teilzeit- auf Vollzeit-Stellen aufzustocken. Wenn man Rentnern erlauben würde, bis zu 2000 Euro monatlich steuerfrei hinzuzuverdienen, erzeuge das einen Schwung an älteren Arbeitswilligen. „Wir müssen auch überlegen, ob ein Geringverdiener, der nur ein Minimum an Arbeitskraft aufbringen will, die gleichen Leistungsansprüche in der Krankenversicherung hat wie einer, der sich in Überstunden aufreibt.“

Sinnvoll seien überdies bereits erprobte oder diskutierte Varianten wie das Hausarztmodell, das in Hausärzten die Lotsen für die Fachärzte sieht, oder auch die Praxisgebühr, die überflüssige Arztbesuche ausbremsen soll. Eine Gebühr für Notfalleinsätze, die keine echten Notfälle darstellen, müsse man ebenfalls prüfen. Schwierig sei bei alldem noch, dass das Bundesverfassungsgericht die Ansprüche auf Sozialleistungen für jedermann so hoch geschraubt habe, dass der Abstand zu den Ansprüchen langjährig Beschäftigter inzwischen viel zu gering sei. „Dann fragen sich die Leute, ob sich das Arbeiten noch lohnt.“ Es delegitimiere eben das oft so gepriesene Umlage-System, wenn der Staat mit Steuermitteln einen fast ebenso hohen sozialen Standard für Leistungsempfänger sichere.