In Deutschland leben rund 10.000 Menschen, die auf ein Spenderorgan warten. Aber nur 797 Menschen waren im vergangenen Jahr bereit, nach ihrem Hirntod ihre Organe anderen Menschen zukommen zu lassen. So wird die Liste derjenigen, die eine Niere, eine Leber, ein Herz oder einen Teil der Lunge brauchen, immer länger – während die Bereitschaft zur Organspende stagniert. Jeder Mensch oder seine Angehörigen müssen das Einverständnis unbedingt erklären. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) setzt sich nun an die Spitze der Bewegung derer, die eine radikale Neuerung durchsetzen wollen, die sogenannte „Widerspruchslösung“: Jeder Deutsche soll per Gesetz verpflichtet sein, ein potenzieller Organspender zu sein – es sei denn, er hat das vorher ausdrücklich anders festgelegt.

Gesundheitsminister Jens Spahn bei der Diskussion um die Organspende. Foto: Wallbaum

Ist das nun ein richtiger Weg? Spahn trat am heutigen Freitag in einer Veranstaltung der Niedersachsen-CDU auf. Im Herbst, sagt der Minister, soll der Bundestag über das Thema abschließend entscheiden. Bis dahin solle das Für und Wider zur Widerspruchslösung intensiv debattiert werden. Mit auf dem Podium waren Befürworter und Gegner. Prof. Axel Haverich, Leiter des Transplantationszentrums der Medizinischen Hochschule Hannover, befürwortet den von Spahn vorgeschlagenen Weg. Spahn selbst war noch vor Jahren gegen die Widerspruchslösung. „Aber nach 1000 Spendern im Jahr 2012 ist das Niveau jetzt gesunken. Deshalb habe ich meine Meinung geändert“, sagt der CDU-Politiker. „Wir brauchen die Reform, weil wir mehr Organspenden brauchen.“ Ralf Meister, Landesbischof der evangelischen Landeskirche Hannover, spricht sich für die Organspende aus, ist aber gegen einen Automatismus in diese Richtung. „Das erste Argument dagegen ist, dass Schweigen, Vergesslichkeit, Langeweile und Ignoranz gegenüber dieser Frage als Zustimmung interpretiert werden. Das finde ich nicht gut“, sagt der Landesbischof und fügt hinzu: „Das zweite Argument ist, dass für mich die Würde des Menschen noch im Tod existiert. Die höchste Aufgabe des Staates ist es, die Würde des Menschen zu schützen. Wenn er aber mit dieser Vorgabe in die Würde des Sterbenden eingreift, wird dieser zum Objekt – und das lehne ich ab.“
Man kann doch nicht erklären, dass das Therapieziel der Hirntod sei!
Die schärfste Kritikerin der Widerspruchslösung ist die Medizinhistorikerin Prof. Anna Bergmann aus Frankfurt/Oder, die sogar die Organspende als solche skeptisch beurteilt. In vielen Krankenhäusern finde eine „Lebensverlängerung um jeden Preis“ statt, sagt sie. Es werde so lange gewartet, bis bei den Menschen der Hirntod eintrete – und dann halte man den Körper am Leben, damit die Organe entnommen und gespendet werden können. Dies hält Prof. Bergmann für ethisch problematisch, denn auch Hirntote seien Sterbende, nur eben solche, deren Sterbeprozess im Krankenhaus aufgehalten, also unnatürlich verlängert werde. Die Medizinhistorikerin geht sogar so weit, den Ärzten und Politikern einen bewussten Plan zu unterstellen: Man arbeite auf den Hirntod hin, damit später die Organe entnommen werden könnten. Diesen Vorwurf hält Spahn für „ungeheuerlich“: „Man kann doch nicht erklären, dass das Therapieziel der Hirntod sei!“ Auch Prof. Haverich widerspricht und appelliert an medizinischen Sachverstand: „Wenn der Hirntod festgestellt wird, ist der Mensch tot. Dann werden die übrigen Organe nur noch mit künstlicher Beatmung am Leben erhalten.“ Ohne diese Beatmung, sagt er, würde der übrige Körper sofort absterben. „Zwei Ärzte müssen unabhängig voneinander feststellen, dass der Hirntod eingetreten ist, und dabei ist nicht der Arzt beteiligt, der später transplantiert“, betont Spahn.

Was macht den Menschen aus?

In der CDU-Veranstaltung mit rund 150 Zuhörern wird die Debatte rasch grundsätzlich. Meister erklärt, dass die Kirche sich noch vor Jahrzehnten überhaupt schwer getan habe mit Eingriffen in den menschlichen Körper von Sterbenden. „Es hat sehr lange gedauert, bis viele Katholiken überhaupt akzeptiert haben, dass auch bei der Verbrennung eines Toten die Wiederauferstehung möglich ist.“ Die Frage werde berührt, was den Menschen ausmache – und welche Eingriffe erlaubt sind und welche nicht. Der Landesbischof selbst setzt darauf, dass zunächst die jüngst vom Bundestag beschlossenen Schritte greifen sollen: Mit verschiedenen Schritten soll erreicht werden, dass in Krankenhäusern verstärkt auf die Möglichkeit von Organspenden hingewiesen wird. In jeder Klinik soll es künftig „Transplantationsbeauftragte“ geben, ein Rufbereitschaftsdienst soll kommen, damit der Hirntod rasch festgestellt werden kann. Das Meldewesen soll ausgebaut werden und jene Kliniken, die sehr aktiv sind bei der Organspende, sollen bei den Finanzzuweisungen nicht bestraft werden.  „Warten wir ab, womöglich geht damit die Zahl der Organtransplantationen schon hoch“, meint Landesbischof Meister.
Toten kann ich nicht mehr helfen, aber ich kann denen helfen, die ein Spenderorgan zum Überleben brauchen
Mehrere Teilnehmer der CDU-Diskussion melden sich, dabei driften die Ansichten stark auseinander. „Warum können wir nicht akzeptieren, dass der Tod eintritt, warum muss die Medizin in alles eingreifen“, fragt eine Frau. Spahn widerspricht: Es gehe hier doch nicht um die Palliativmedizin für Sterbende, etwa schwer Krebskranke, sondern um Fälle wie den Motorradfahrer, der nach einem Unfall ins Krankenhaus kommt und stirbt. „Ich möchte Arzt werden. Toten kann ich nicht mehr helfen, aber ich kann denen helfen, die ein Spenderorgan zum Überleben brauchen“, erklärt ein junger Mann, der Arzt werden will. Prof. Haverich berichtet von einem Besuch in einer süddeutschen Klinik, in der vier Kinder seit einem halben Jahr auf ein Spenderherz warten. „Wenn dann nach langer Wartezeit eine Operation klappt, dann schauen Sie bitte in die Augen der Eltern“, sagt der Transplantationsspezialist. Zum Ende der Veranstaltung steht ein älterer Mann auf und sagt: „Ich habe vor 16 Jahren eine Spenderlunge bekommen, und ich lebe damit gut. Ich bedanke mich dafür, dass das damals möglich war.“ (kw)