Kann heute wieder jemand kommen wie damals Adolf Hitler, große Teile der Wählerschaft beeindrucken – und dann über geschickte politische Schritte, brutale Aktivität und die starke Präsenz in der Öffentlichkeit die Macht in Deutschland an sich reißen? Gemeinhin wird diese Frage mit „nein“ beantwortet, und dann werden einige Gründe dafür angeführt. Erstens wegen der Stabilität der demokratischen Ordnung und der inzwischen schon traditionellen Diskussions- und Streitkultur.

Zweitens werden die gefestigten Parteien, Verbände und ihre demokratischen Eliten erwähnt. Drittens wird auf ein Rechts- und Normensystem hingewiesen, das von gegenseitiger Kontrolle, Achtung vor den Menschenrechten und der Würde der einzelnen Person geprägt ist. Aber stimmt das alles?

Adolf Hitler spricht im Reichstag zum Ermächtigungsgesetz. | Foto: Bundesarchiv, Bild 102-14439/Georg Pahl

Heute ist der 23. März 2023, der 90. Jahrestag eines parlamentarischen Tiefpunktes in Deutschland, der Abstimmung im Reichstag über Hitlers Ermächtigungsgesetz. Man muss es bis heute den Sozialdemokraten hoch anrechnen, dass sie als einzige Fraktion gegen die Vorlage stimmten – und ihr Vorsitzender Otto Wels eine der besten Reden vortrug, die je in einem Parlament gehalten wurden.

Die anderen Parteien, auch das bürgerliche Zentrum und die liberale DDP, rangen um ihren Weg – und entschieden sich mehrheitlich dafür, Hitler zu folgen. Das geschah nicht freiwillig, sondern unter starkem Druck der massiv auftretenden SA-Trupps. Die Demokratie lag ja schon danieder, und so kam im Reichstag die Zweidrittelmehrheit zustande. Damit hatte Hitler den nächsten Schritt zur Festigung seiner Macht erreicht, auf damals formell immer noch legalem Weg.

Otto Wels | Foto: unbekannt

Einige Wochen zuvor, nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933, unterzeichnete Reichspräsident Paul von Hindenburg eine Notverordnung, die Pressefreiheit, Versammlungsrecht und Meinungsfreiheit massiv einschränkte – und die Basis dafür schuf, politische Gegner in „Schutzhaft“ zu nehmen, also ins KZ zu sperren. Als der Reichstag am 23. März 1933 über das einen Tag später in Kraft tretende Ermächtigungsgesetz abstimmte, waren die KPD-Abgeordneten schon nicht mehr dabei.

In den folgenden Wochen und Monaten konnte die Reichsregierung aus Hitlers NS-Leuten und Deutschnationalen nun Gesetze beschließen, ohne den Reichstag zu beteiligen – auch solche, die Teile der Reichsverfassung außer Kraft setzten. In den Wochen nach dieser Entscheidung wurde das Beamtengesetz geändert, so konnten jüdische oder sozialdemokratische Beamte entlassen werden. Das Eigentum der Gewerkschaften wurde beschlagnahmt, alle Parteien außer der NSDAP wurden verboten oder lösten sich unter massivem Druck selbst auf, die Länder und Gemeinden wurden „gleichgeschaltet“, also auf NS-Linie gebracht.

Adolf Hitler auf einem Foto von1927. | Foto: Bundesarchiv, Bild 102-13774/Heinrich Hoffmann

Der Lauf der Ereignisse in den Jahren bis zu Hitlers „Machtergreifung“ und in der Zeit danach zeigt, dass dieser Prozess planvoll und schrittweise geschah, nicht abrupt oder revolutionär. Es wirkte nicht wie ein Umsturz, sondern wie ein organisierter Prozess. Vieles war auch nur möglich, weil ein Großteil des eingeschüchterten oder resignierenden Bürgertums schon aufgegeben hatte, den Nazis die Stirn zu bieten. Immerhin war die NSDAP auch bereits in weiten Teilen der Bürgerschaft zu einer etablierten politischen Kraft geworden.



Was ist nun mit der These, heute könne so etwas wohl nicht noch einmal passieren?

Die Stabilität der demokratischen Ordnung

Auffällig ist 2023, 90 Jahre später, die Zunahme der offensiv vorgetragenen Positionen, das System der parlamentarischen Demokratie sei nicht stark genug für die aktuellen Herausforderungen. In rechtsextremen Kreisen genießt das Modell der „illiberalen Demokratie“ nach dem Vorbild Ungarns Sympathie. Die Parlamentsmehrheit soll gestärkt werden – zu Lasten einer unabhängigen Justiz und zu Lasten der politischen Minderheiten. Grundrechte werden abgewertet mit dem Vorwand, der in Beschlüssen der Parlamentsmehrheit ausgedrückte Wille sei überragend, sozusagen das „gesunde Volksempfinden“.

Auf der linken Seite gedeihen Versuche, die Notwendigkeit klarer Festlegungen für mehr Klimaschutz als „unverträglich“ mit den naturgemäß langsamen und schrittweisen Abwägungen parlamentarischer Meinungsbildung darzustellen. Der Ruf nach „Bürgerräten“ klingt dann so wie der Ruf nach „Arbeiter- und Soldatenräten“ nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Auch das rüttelt an den Grundprinzipien unserer repräsentativen Demokratie, des Parteienstaates.

Gefestigte demokratische Strukturen

Die Parteien, Verbände und Gewerkschaften sind heute in einer Krise, da ihnen der Zustrom von engagierten Leuten fehlt. Viele politisch aktive Gruppen verzichten auf eine Beteiligung an diesen Institutionen – wohl auch deshalb, weil sie etwa glauben, über die sozialen Medien mehr Effekte erzeugen zu können. Wenn die Parteien aber nicht mehr die Breite der Bevölkerung abbilden, korrespondierend mit einer Abnahme der Beteiligung bei den Wahlen, droht ihnen die Legitimation für die Vertretung des Gemeinwohls abhanden zu kommen. Eine Stärkung direktdemokratischer Beteiligungsformen dürfte diesen Missstand eher noch vergrößern.

Ein Plakat bei einer Querdenker-Demo in Berlin im Sommer 2020. | Foto: Geoprofi Lars/CC-BY-SA-4.0

Was die Eliten angeht, erleiden auch sie einen Ansehensverlust: Die Kirche ist mit Missbrauchsskandalen belastet, die Politiker genießen nicht mehr wie früher Respekt, die Vertreter des Staates in Gestalt von Polizisten, Richtern, Rettungskräften und Bürgermeistern werden verstärkt verbal und auch tätlich angegriffen. Die Journalisten werden nicht mehr als um eine objektive Sichtweise bemühte Wächter wahrgenommen. Das alles erschüttert die Strukturen des demokratischen Staates bislang noch nicht, kann aber eine Vorstufe davon sein.

Die Rechtsnormen schützen vor neuen Diktatoren

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben 1949 eine Lehre aus der NS-Zeit gezogen. In Artikel 79 des Grundgesetzes steht, dass die Verpflichtung des Staates zur Achtung der Menschenwürde (Artikel 1), sowie die Aufgliederung der politischen Macht in Deutschland zwischen Bund und Ländern und zwischen den Gewalten der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung (Artikel 20) nicht geändert werden dürfen – auch nicht mit einer verfassungsändernden Mehrheit im Bundestag und Bundesrat. Gleiches gilt für den Charakter Deutschlands als Rechtsstaat, in dem der Einzelne gegen jeden Verwaltungsakt des Staates gerichtlich angehen darf. Das ist anders als in der Weimarer Republik.

Das „Ermächtigungsgesetz“ Hitlers war vor 90 Jahren auch deshalb möglich, weil die Weimarer Reichsverfassung keine ausreichenden Schutzmechanismen gegen eine Verfassungsänderung bot, die elementare Grundrechte und auch die Gewaltenteilung außer Kraft setzte. Aber wie bekannt ist die Tatsache, dass das Grundgesetz hier notwendige und für die Ewigkeit garantierte Bestimmungen enthält – und warum ist das so? Das Interesse weiter Teile der Bevölkerung für die jüngste deutsche Geschichte ist schwach.

Ganz viele Leute wissen nur sehr wenig von den Umständen, die einst die Nazis zur Macht führten. Wer sich aber dafür nicht interessiert, wer historische Zusammenhänge ignoriert, der verliert auch das Verständnis für die nötigen rechtlichen Schutzvorkehrungen. Mag sein, dass die Politiker heute, wenn sie eine neue Verfassung schreiben müssten, dort ganz andere Dinge in den Mittelpunkt stellen und die Lehren aus den Fehlern der Weimarer Republik vernachlässigen. Die Gefahr zumindest besteht.