Von Martin Brüning

245 Milliarden Euro. So groß ist der Topf, mit dem in diesem Jahr finanzielle Unwuchten zwischen den Krankenkassen ausgeglichen werden sollen. Der größte Teil stammt aus den Beiträgen der gut 72 Millionen Versicherten in Deutschland, rund 1,7 Prozent des Milliardeninhalts im morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, dem sogenannten Morbi-RSA, steuert der Bund zu.

Und wie immer, wenn es um viel Geld geht, sorgen Reformpläne für höchste Alarmbereitschaft. Die Vorhaben von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn führen nicht nur bei vielen Krankenkassen zu Aufregung, sondern auch in den Bundesländern. Denn mit der Reform des Morbi-RSA und den geplanten Vereinfachungen bei der Kassenwahl rüttelt Spahn an gleich mehreren Grundfesten des Finanzausgleichs und des Umgangs mit dem System der Krankenkassen der vergangenen Jahre. Das sind die Streitfälle:

Faire Ausgleichszahlungen

Das solidarische System ist nicht wenigen Kassen ein wenig zu solidarisch in eine Richtung. Vor allem die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOKs) haben in den vergangenen Jahren von der Umschichtung der Gelder profitiert. Während sie  zuletzt über 1,3 Milliarden Euro mehr aus dem Topf bekamen als sie für die Versorgung ihrer eigenen Versicherten benötigen, mussten die Betriebskrankenkassen mit über 220 Millionen Euro weniger auskommen, die Ersatzkassen wie Barmer, DAK oder Techniker-Krankenkasse (TK) sogar mit fast einer Milliarde Euro weniger.

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Fairer Wettbewerb funktioniert so nicht, stellt deshalb Inken Holldorf, Leiterin der TK-Landesvertretung in Niedersachsen, fest. Auch das niedersächsische Sozialministerium sieht „Deckungsunterschiede zwischen den einzelnen Kassenarten“. Sozialministerin Carola Reimann ist deshalb unter anderem für einen Risikopool für sogenannte Hochkostenfälle, damit kleinere Kassen nicht durch teure Einzelfälle in Schieflage geraten. Zudem sollten ihrer Meinung nach Präventionsleistungen der Kassen stärker berücksichtigt werden, und eine Alters- und Geschlechtspauschale könnte die aktuellen Unterschiede zwischen den Kassen minimieren.

Fairer Umgang

Der Risikostrukturausgleich richtet sich unter anderem nach 80 Krankheiten, für deren Diagnose bei Patienten die jeweilige Krankenkasse Zuschläge erhält. Die Ärzte müssen dafür die Diagnose entsprechend kodieren. Auf Seiten der Kassen hat das zur Unart der „Kodierberatung“ geführt. Kassen unterstützen Ärzte gerne dabei, „korrekt“ zu kodieren, und „korrekt“ heißt in dem Fall: Die Diagnose so anzugeben, dass das Ergebnis stimmt – und zwar für die jeweilige Krankenkasse.

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Eine Studie der Techniker-Krankenkasse ergab, dass jeder fünfte Arzt seit 2018 unzulässig bei Kodierungen beraten worden sei. Das geht zum Beispiel am Telefon, persönlich oder man unterstützt gleich bei der entsprechenden Computer-Software. Wie bei einem Navigationsgerät mit (illegalem) Blitzerservice ist die (illegale) Kodierhilfe dann bei der Praxissoftware mit an Bord. Erlaubt ist das nicht, aber man muss erwischt werden. Und da ist man schon beim nächsten Streitpunkt.

Faire Aufsicht

Nicht alle Kassen unterliegen der gleichen Aufsicht. Während die bundesweit agierenden Kassen vom Bundesversicherungsamt beaufsichtigt werden, sind bei regionalen BKKs oder den AOKs die Länder zuständig. In Niedersachsen übernehmen vier Beschäftigte die Aufsicht und 11 die Prüfungen. Sie stehen zum Beispiel fast 7000 AOK-Mitarbeitern an landesweit 121 Standorten gegenüber. Die bundesweiten Kassen fühlen sich zumindest vom Bundesversicherungsamt schärfer geprüft.

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In Niedersachsen hätten sich in puncto Kodierberatungen nach dem Verbot 2017 keine „aufsichtsrechtlich relevanten Beanstandungen ergeben“, heißt es aus dem Sozialministerium. Dort sieht man keine Veranlassung, die bisherige Aufsichtsstruktur zu verändern. Es könne grundsätzlich keine unterschiedliche Rechtsaufsicht bei Kassen unter Bundes- und Landesaufsicht festgestellt werden. Deshalb hält man auch nichts von dem Vorschlag, die Finanz- und Versorgungsaufsicht zu trennen und teilweise dem Bund zu überlassen. Eines gilt für Bund und Länder allerdings ohnehin gleichermaßen: Schwarze Schafe sind auf allen Ebenen schwer zu finden.

Faire Auswahl

Die günstigste Krankenkasse ist derzeit die AOK Sachsen-Anhalt mit einem Gesamtbeitragssatz von 14,9 Prozent. Das Problem für die Versicherten in Niedersachsen: Nicht einmal in Helmstedt oder Lüchow darf man dort Mitglied werden, man ist einfach auf der falschen Seite der Landesgrenze, selbst wenn man in ihrer Nähe wohnt. Und das dürfte auch künftig so bleiben, weil die Länder weiterhin die minimale Teil-Regionalisierung bei den Krankenkassen beibehalten wollen. Dort befürchtet man ansonsten eine weitere Zentralisierung im Gesundheitswesen.

So stark die Länder an ihren regionalen Aufsichtsrechten festhalten, so sehr sind sie davon überzeugt, dass der Morbi-RSA reformiert werden muss. Er sei von vornherein als „lernendes“ System konzipiert worden, welches ständiger Anpassungen bedarf, heißt es aus dem Sozialministerium in Hannover. Um einen Reform-Kompromiss wird zwischen Bund, Ländern und Kassen nach wie vor hart gerungen. Kein Wunder, im Topf liegen ja auch 245 Milliarden Euro.