Die alljährliche Jahresauftaktklausur der niedersächsischen SPD in der Heimvolkshochschule in Springe dient eigentlich der landespolitischen Kursbestimmung. Doch pünktlich zum Auftakt am späten gestrigen Vormittag war klar, dass die Sensation in Thüringen die politische Agenda der Sozialdemokraten kräftig durcheinanderwirbeln und fast die gesamte Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird.

Als die beiden neuen Bundesvorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken vor den Funktionsträgern der Landespartei erschienen, gab es auf den Fluren und in den kleinen Gesprächsrunden nur ein einziges Thema: Wird die Wahl des neuen Thüringer Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP), vermutlich mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP, ein tiefes Zerwürfnis in der Großen Koalition verursachen – und der SPD eine Gelegenheit zum Ausstieg aus der in weiten Teilen der Partei ungeliebten gemeinsamen Regierung mit CDU und CSU ermöglichen?

Der erste, der sich hervorwagte mit einer Stellungnahme, war SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Er meinte, dass man nun „im Koalitionsausschuss mit Frau Kramp-Karrenbauer reden muss“. Die CDU-Bundesvorsitzende wiederum distanzierte sich, ebenso wie ihr Generalsekretär Paul Ziemiak, deutlich von einer Zusammenarbeit mit der AfD. Beide forderten Neuwahlen und gaben zu erkennen, dass sie die – vermutete – Unterstützung von CDU-Landtagsabgeordneten für einen von der AfD mitgetragenen Ministerpräsidenten nicht gut heißen, sondern klar ablehnen. Die Thüringer Abgeordneten hätten „gegen den Rat der Parteispitze gehandelt“.

Einige in der SPD, etwa die Landtagsfraktionsvorsitzende Johanne Modder oder Ministerpräsident Stephan Weil, sprechen von einem „abgekarteten Spiel“ und behaupten damit indirekt, die CDU habe den Verlauf der Dinge im Erfurter Landtag von langer Hand vorbereitet. Wenn das so ist, besteht dann noch ein Vertrauensverhältnis zwischen Sozialdemokraten und Union auf Bundesebene? In der Pressekonferenz nach der ersten Runde der SPD-Klausurtagung meinte der SPD-Vorsitzende Walter-Borjans, die Wahl von Kemmerich „kann so nicht bleiben“.

Man werde darüber Gespräche mit den Spitzen von CDU und CSU führen. Seine Kollegin Esken ergänzte, wenn die CDU in Thüringen bei ihrer eingeschlagenen Richtung bleibe und die Kemmerich-Wahl Bestand habe, dann „hat die Spitze der Bundes-CDU ein Problem“. Die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer müsse den Thüringer Landesverband „zum Einlenken bringen und Konsequenzen ziehen“. Auf die Nachfrage, was geschehe, wenn sich trotz der deutlichen Distanzierung der CDU- und CSU-Parteispitze im Erfurter Landtag nichts bewege und Kemmerich zunächst im Amt bleibe, gaben Walter-Borjans, Esken und Weil keine konkrete Antwort.

Der Ball liegt jetzt vor den Füßen der CDU.

An dieser Stelle ist die Haltung der SPD offenbar noch nicht geklärt. Einige, zu denen man wohl auch Weil rechnen kann, legen Wert vor allem auf eine deutliche Haltung der Bundesführung von CDU und CSU. Sobald diese sich klar von den Thüringer Vorkommnissen distanzierten, was sie auch getan haben, sei das schon ausreichend. Esken und Walter-Borjans wiesen allerdings darauf hin, dass die Thüringer Landesverfassung verschiedene Wege zulasse – entweder Neuwahlen, die über einen Rücktritt des gerade gewählten FDP-Ministerpräsidenten in die Wege geleitet werden könnten, oder auch ein konstruktives Misstrauensvotum. Im zweiten Fall müsste die CDU im Thüringer Landtag bereit sein, einen Gegenkandidaten zu Kemmerich im Landtag zum Regierungschef zu wählen – gemeinsam mit SPD, Grünen und Linkspartei.

„Der Ball liegt jetzt vor den Füßen der CDU“, betonte Esken. Sie ließ es offen, ob die SPD-Spitze notfalls bereit wäre, als Zeichen des Protestes gegen die Vorgänge in Erfurt die Große Koalition im Bundestag zu verlassen und vorzeitige Bundestagsneuwahlen zu riskieren. Walter-Borjans fügte hinzu, die Parteizentralen in Berlin und München dürften sich jetzt „nicht wegschleichen und so tun, als hätten sie mit all dem in Erfurt nichts zu tun“. Am Abend gab es eine spontane Demonstration gegen die Wahl von Kemmerich in Hannover, aufgerufen dazu hatten DGB, Grüne, die Grüne Jugend und einige andere Organisationen. Einer der Redner auf der Kundgebung war Innenminister Boris Pistorius.