Der Staatsgerichtshof, höchstes Gericht in Niedersachsen, hat am Mittwoch eine Lanze für das freie Mandat der Abgeordneten gebrochen: Der fraktionslose, der AfD angehörende Abgeordnete Klaus Wichmann siegte mit seiner Klage gegen die Landtagsverwaltung. Er hatte erklärt, die Parlamentspräsidentin Gabriele Andretta (SPD) habe ihn in seinen parlamentarischen Rechten beschränkt, da sie Wichmanns Antrag auf Teilnahme an einer „aktuellen Stunde“ am 14. Dezember 2021 zum Thema Wolf verweigert hatte. Andretta tat das damals mit Verweis auf Paragraph 71 der Landtags-Geschäftsordnung. In dieser ist festgeschrieben, dass fraktionslose Abgeordnete in den „aktuellen Stunden“ nicht reden dürfen – sondern ausschließlich Abgeordnete, die einer Landtagsfraktion angehören.

Klaus Wichmann (vorne links) erhebt sich zur Urteilsverkündung des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs in Bückeburg. | Foto: Wallbaum

„Aktuelle Stunden“ werden häufig für den Auftakt eines Plenartages auf die Tagesordnung gesetzt, dafür kann jede Fraktion dann jeweils eigene politische Themen benennen. Wichmann hatte in der Gerichtsverhandlung Ende Juni erklärt, diese „aktuellen Stunden“ seien oft der Schwerpunkt des parlamentarischen Geschehens, sie würden besonders von den Medien wahrgenommen. Daher sei der Ausschluss fraktionsloser Abgeordneter von der Teilnahme an diesen Debatten eine Beschneidung seiner Rechte als frei gewählter Abgeordneter.

Landtag darf Rederecht begrenzen

Der Staatsgerichtshof folgte jetzt im Urteil dieser Argumentation. Schon Ende Juni hatte sein Präsident Thomas Smollich erklärt, die Landtags-Geschäftsordnung dürfe die Rechte und Pflichten der Parlamentarier zwar gestalten, „aber nicht einschränken“. Zur Urteilsverkündung fehlte Smollich jetzt, er hatte sich am Morgen krank gemeldet. Da Vize-Präsidentin Anke van Hofe an dem Verfahren nicht beteiligt war, musste die dienstälteste Richterin Hannelore Kaiser (ehemalige Präsidentin des Verwaltungsgerichts Hannover) einspringen und die Entscheidung verlesen. Kaiser sagte, die öffentliche Debatte sei ein wesentliches Element des demokratischen Parlamentarismus. Dieses müsse zwar nicht schrankenlos gewährt werden, doch jede Begrenzung bedürfe einer besonderen Rechtfertigung.

War erfolgreich mit seiner Klage: der AfD-Politiker Klaus Wichmann MdL | Foto: Wallbaum

Das generelle Verbot für fraktionslose Abgeordnete, sich an der „aktuellen Stunde“ zu beteiligen, beeinträchtige aber den Kernbestand der Rechte der Abgeordneten – es sei außerdem „verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt“ und „unverhältnismäßig“. Der Landtag dürfe Rederechte begrenzen, wenn die Funktionsfähigkeit des Parlaments in Gefahr geraten sollte oder die Verteilung der Redezeiten nicht mehr den Kräfteverhältnissen entspräche. Dies setze aber eine besondere Abwägung voraus, das generelle Ausschließen bestimmter Abgeordneter – wie in der Geschäftsordnung festgeschrieben – widerspreche dem allerdings.

„Dem Parlament obliegt es, im Rahmen der Geschäftsordnung zu konkretisieren, was zur Erhaltung seiner Arbeits- und Funktionsfähigkeit sowie seiner Repräsentativität erforderlich ist.“

Nun geben die Richter dem Landtag auch Hinweise, wie man vorgehen könnte. Kaiser erklärte, bei einem großen Andrang Fraktionsloser auf die Rednerliste könne man die Gesamtredezeit limitieren. Rederecht heiße aber, dass ein Abgeordneter mindestens eine Minute lang sprechen können müsse. „Begrenzte Ungleichgewichte“ müssten bei der Zuteilung der Redezeiten hingenommen werden – auch wenn etwa der Eindruck entstehe, Fraktionslose kämen über Gebühr zu Wort. Die Öffentlichkeit könne „die Bedeutung einer einzelnen Wortmeldung durchaus realistisch einschätzen“.

Der Landtag könne noch andere Mittel vorsehen – etwa ein Rotationsprinzip (heute rede der eine zu einem Thema, morgen ein anderer zu einem anderen), die Begrenzung der Gesamtredezeit, die Berücksichtigung der gemeinsamen Parteizugehörigkeit fraktionsloser Redner oder auch ein Losverfahren. Der siegreiche Kläger Wichmann erklärte nach dem Urteil, der Staatsgerichtshof habe SPD, CDU, Grünen und FDP eine „schallende Ohrfeige verpasst“. Vertreter des Landtags waren zur Urteilsverkündung nicht nach Bückeburg gekommen, damit stand öffentlich niemand für die Niederlage ein.



Spannend wird sein, ob es in der Landtagssitzung vom 21. bis 23. September noch „aktuelle Stunden“ geben wird – falls ja, könnte das von einem Rechtsstreit begleitet werden. Zwar hat der Staatsgerichtshof Paragraph 71 der Geschäftsordnung teilweise als verfassungswidrig bezeichnet, die Norm als solche aber nicht aufgehoben. Auf jeden Fall dürfte nach diesem Urteil der neugewählte Landtag in seine neue Geschäftsordnung eine Regel aufnehmen, die eine Teilnahme fraktionsloser Abgeordneter an den Debatten näher bestimmt.