Der Lidstrich sitzt, der Kaffee dampft – fehlt noch die Zeitung, um in den Tag zu starten. Aber die kam die ganze Woche lang nicht pünktlich zum Frühstück, sondern irgendwann im Laufe des Tages. Am Wochenende dann ein nassforsches Lebenszeichen aus der Chefredaktion: Es gab Schwierigkeiten bei der Zustellung, okay, aber man könne die Zeitung ja auch digital lesen. Und immerhin bräuchten wir nichts extra dafür zu bezahlen, dass wir die Ausgabe doch noch bekommen haben. Da kommt sogar Mitarbeitenden der Deutschen Bahn leichter eine Entschuldigung über die Lippen.

Beide kurz vorm Aussterben: Dinosaurier mit gedruckter Zeitung | Grafik: Briash/GettyImages

 
Das Mitleid im Bekanntenkreis hielt sich in Grenzen: „Was, ihr lest noch eine gedruckte Zeitung?“ Für einen Moment dachten wir tatsächlich, wir seien die letzten. Aber seit voriger Woche ist die gedruckte Zeitung wieder in aller Munde – besonders bei Medienvertreterinnen und -vertretern: als Bollwerk der Pressefreiheit. Als physisches Ding, das gedruckt und ausgeliefert wird, ist sie zur Zielscheibe geworden für Aktivistinnen und Aktivisten, die irgendwie mit dem Bauernprotest solidarisch sind und die Medien doof finden. Deswegen kippen sie Mist vor Druckereien und behindern die Auslieferung der Nordsee-Zeitung oder der Hamburger Morgenpost. Bytes und Algorithmen sind schwer zu attackieren, wenn man keine Hacker-Kenntnisse besitzt. Aber die gedruckte Zeitung macht sich angreifbar.
 
Man fragt sich, ob die Blockierer sie überhaupt gelesen haben. Denn sonst hätten sie wahrscheinlich festgestellt, dass die meisten Medien sehr ausgewogen über die Proteste berichten und durchaus Sympathie für die Bauern zeigen. Zumindest haben die Aktivisten sich nicht zugetraut oder die Mühe gemacht, die etablierten Foren der Meinungsbildung zu nutzen und dort öffentlich eine Gegenrede zu formulieren.
 
Wir schauen heute auf die Politik innerhalb und außerhalb der Parlamente:
 
·      Plötzlich im Bundestag: Angela Hohmann aus Altencelle ist durch die Berlin-Wahl nachgerückt.
·      Landvolk-Präsident Holger Hennies erklärt im Interview, wie er versucht, die protestierenden Landwirte zusammen zu halten.
·      SPD-Politiker Matthias Miersch setzt sich dafür ein, den Stein des Anstoßes überflüssig zu machen: E-Traktoren und E-Landmaschinen statt Agrardiesel.
 
Dass immer mehr Akteure glauben, Argumentieren in Parlamenten und Medienformaten bringe nichts, und lieber mit Sprühfarbe und Misthaufen kommunizieren, lässt mich etwas ratlos zurück. Aber heute morgen habe ich liebevoll die Zeitung getätschelt, als sie pünktlich im Briefkasten lag. Ich blinzelte verschwörerisch der Nachbarin zu, die ebenfalls zur aussterbenden Spezies der Papierleser gehört. Ich reichte meinem Mann den Lokalteil herüber und fragte, was er dazu denkt. Ich glaube, dass die gedruckte Zeitung eine Diskussionsgrundlage ist, eine Reibungsfläche, etwas, was Menschen im Treppenhaus und am Gartenzaun ins Gespräch bringt, wie es Algorithmen nicht können – und damit ein Stück Demokratie.
 
Ich wünsche Ihnen einen Dienstag mit guten Argumenten!
Ihre Anne Beelte-Altwig