Der früheren britischen Premierministerin und Krämertochter Margaret Thatcher wird nachgesagt, zu jeder Zeit genau gewusst zu haben, wie viel Pfund ein Pfund Butter kostet. Die Zuschreibung dieser besonderen lebenspraktischen Begabung sollte die Eiserne Lady unterscheiden von all den abgehobenen Westminister-Ministeriellen, deren Leben mit dem Leben der normalen Leute aber auch so gar nichts mehr zu tun hatte.

Lebensrealitätscheck: How much is the butter? | Foto: Floortje via Getty Images

Diese besondere Spielart des Thatcherismus scheint inzwischen wieder auf dem Vormarsch zu sein. Ein Mangel an lebenspraktischer Begabung tut keinem Politiker gut, denn ein gewisses Maß an Butter-Kompetenz wird erwartet von all jenen, die sich anschicken, über unser Leben zu entscheiden. Die Merkel, erinnert sich jetzt bestimmt mancher nostalgisch zurück, die ist ja immerhin noch selber im HIT einkaufen gegangen. Man sieht die Bilder von der Lebensrealität einer Bundeskanzlerin und hat zugleich das Müsli-mit-Wasser-Bekenntnis eines anderen Spitzenpolitikers im Ohr.

Zuletzt, jedenfalls, scheint mir die „Lebensrealität“ als Hauptmotiv der politischen Argumentation eine gewisse Konjunktur zu haben – insbesondere im Bildungssektor:

  • Beispiel 1: FDP-Generalsekretärin Imke Haake kommentiert die Pläne von Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (auch FDP) zu Zivilschutz-Übungen im Unterricht so: „Schülerinnen und Schüler sollten nicht vor der Lebensrealität geschützt, sondern auf sie vorbereitet werden.“ Lebensrealität müsse man in die Schulen holen.
  • Beispiel 2: Im Podcast-Gespräch mit meinem früheren Kollegen Martin Brüning von der Ideen-Expo erklärt Kultusministerin Julia Hamburg (Grüne), „dass sich die Frage von Praktikum und Unternehmensauftritt von der Lebensrealität junger Menschen entfernt habe.“ Unternehmen müssten auch selbst attraktiv werden und sich an die Lebenswelten junger Menschen anpassen, um Fachkräfte zu gewinnen.
  • Beispiel 3: Der Landesjugendring Niedersachsen stellt fest: „In der gegenwärtigen Diskussion über unbesetzte Ausbildungsplätze und steigende Studierendenzahlen wird der Lebensrealität junger Menschen eine zu geringe Aufmerksamkeit geschenkt.“ In der entsprechenden Mitteilung taucht gleich dreimal die Lebensrealität und zweimal die Lebenswelt auf. (Mehr dazu lesen Sie heute im Rundblick)

Eine tiefergehende Analyse weiterer Mitteilungen, Stellungnahmen und Zeitungsartikeln würde noch weitere Lebensrealitäten hervorbringen, ein Auszug in verkürzten Zitaten: die komplexe Lebensrealität alleinerziehender Mütter, die Lebensrealität queerer Menschen, die Lebensrealität übergewichtiger Menschen, die Lebensrealität geflüchteter Menschen, die Lebenswirklichkeiten junger migrantischer Männer, die Lebensrealität unserer vielfältigen Gesellschaft, die Lebensrealität normaler Menschen, die Klimakrise als Lebensrealität, die Lebensrealität Opioid-gebrauchender Menschen, die Lebensrealität von Menschen in der Ukraine, die Lebensrealität der Menschen aus Hannover-Mitte, …



Die Lebensrealität, das wird wohl deutlich, ist kein Singular, es gibt sie nur im Plural der Betroffenheiten. Dabei beschleicht mich der Verdacht, dass der Verweis auf die zu beachtende Lebensrealität am Ende doch nur die neue Version des „gesunden Menschenverstands“ ist, den man bereits als Totschlagargument aus so mancher Debatte kennt. Denn was sollte man schon gegen die Lebensrealität sagen? Wer die nicht (aner)kennt, beweist doch nur seine fehlende Butter-Kompetenz – und da sei die Thatcher vor!

Im Rundblick lesen Sie heute:

  • OVG-Präsidentschaft: Nach langem Rechtsstreit steht nun fest, dass ein CDU-Mann künftig das Oberverwaltungsgericht Lüneburg leiten soll.
  • Berufsorientierung: Der Landesjugendring rügt die Idee des Kultusministeriums, vermehrt auf Praktika zu setzen. Von „Klassismus“ ist die Rede.
  • Straßenausbaubeitragssatzung: Ein Dauerbrenner hört nicht auf, die Gemüter der Kommunalpolitik zu erhitzen.

Im deutschen Supermarkt kostet das handelsübliche halbe Pfund Markenbutter derzeit vielerorts so etwa 2,15 Euro. So habe ich das jedenfalls gerade bei Google gelesen, gewusst hätte ich es wohl nicht.

Ihr Niklas Kleinwächter