Verrohung drückt sich auch dadurch aus, dass man gar nicht mehr merkt, wie kaputt etwas ist. Zum Beispiel die sozialen Netzwerke. Die Zahl der Hasskommentare im Internet klettern in der Polizeistatistik zur politisch motivierten Kriminalität auf einen neuen Spitzenwert: 855 Fälle hat man im vergangenen Jahr gezählt. Aber: Schockiert das noch irgendwen?

Wenn in der realen Welt an einem Ort die Stimmung schlecht ist, dann meidet man diesen. Und so passiert es jetzt auch mit den sozialen Orten des Internets. Wie üblich machen es die jungen Leute vor. Ja, TikTok boomt gerade. Aber wenn erst einmal die ganzen Boomer sich dort tummeln, wird die Jugend längst weitergezogen sein.

Back to the digital roots: Haben Sie noch Ihr altes Nokia in der Technik-Schublade? | Foto: Anna Duvanova via Getty Images

Wohin zieht es sie? Glaubt man dem Feuilleton, dann wollen die jungen Leute heute wieder vermehrt zurück in einen digitalen Urzustand. Schon vor einem Jahr kamen die ersten Berichte über die „Luddit-Clubs“ auf – Gruppen von jungen Technikverweigerern, die sich sprachlich und ideologisch an der industriekritischen Arbeiterschaft des 19. Jahrhunderts in England orientieren.

Das Smartphone hat ausgedient, das Dumbphone liegt im Trend, liest man nun dieser Tage. Telefonieren, SMS schreiben und vielleicht noch Snake spielen – mehr brauchten wir Kids der 90er doch auch nicht. Und wenn die Kids von heute sich wieder so anziehen wie wir damals, dann ist es auch nur folgerichtig, das alte Nokia 3310 wieder aus der Technik-Schublade zu kramen. Akku hat es bestimmt noch.

Wer sein erstes Mobiltelefon umweltbewusst entsorgt hat, der kann jetzt auf technische Hilfe beim Technikverzicht zurückgreifen. Ein Freund zeigte mir neulich ganz stolz, dass ihn die App „one sec“ jetzt immer bremse, wenn er eine App auf seinem Smartphone öffnen möchte. Das Programm fordere dich auf, einmal ganz tief durchzuatmen und dich zu fragen: Muss das jetzt wirklich sein? Auch das gefürchtete Doom-Scrolling könne damit unterbunden werden. Er habe schon Stunden seiner Lebenszeit durch die App-Verhinderungs-App gewonnen!

Das erzwungene Durchatmen könnte sicher auch die Zahl der Hasskommentare im Internet wieder verringern. Aber dafür bräuchte es zuerst die Erkenntnis, dass es vielleicht besser ist, seine eigene Meinung einmal nicht durch den Äther zu schicken…



Im Rundblick lesen Sie heute:

  • Kriminalstatistik: Innenministerin Behrens hat die neusten Zahlen zur politisch motivierten Kriminalität vorgestellt. „Die größte Gefahr für den Rechtsstaat geht von rechter Gewalt aus“, kommentierte sie.
  • AfD für Verbot der Gendersprache: Die AfD-Landtagsfraktion möchte den Landesbehörden verbieten, gendersensible Sprache zu verwenden.
  • Tierschutzbeauftragte: Die Berufung der neuen Landesbeauftragten für den Tierschutz, Julia Pfeiffer-Schlichting, sorgt für Wirbel in der Landesregierung – und verärgert führende Mitarbeiter.

Einen Dienstag ohne Hasskommentare wünscht Ihnen
Ihr Niklas Kleinwächter