Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) musste gestern zu Beginn des neuen Schulhalbjahres wenig erfreuliche Zahlen bekanntgeben. Zum Stichtag 16. September 2021 ist die Unterrichtsversorgung an den allgemeinbildenden Schulen in Niedersachsen auf 97,4 Prozent gesunken. Zuletzt war dieser statistische Wert im August 2002 so niedrig gewesen, wie aus den Zahlen des Kultusministeriums hervorgeht. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Rückgang um 1,6 Prozentpunkte. Tonne bezeichnete diese Zahlen als „politisch wie persönlich völlig unbefriedigend“.

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Erfreut zeigte sich Tonne allerdings angesichts der neuen Lehrkräfte, die nun zum 2. Februar ihren Dienst an Niedersachsens Schulen aufgenommen haben. Insgesamt wurden 961 neue Lehrkräfte eingestellt. Im selben Zeitraum sind laut Zahlen des Kultusministeriums aber nur 670 Lehrer aus dem Dienst ausgeschieden. Daraus ergibt sich ein positiver Saldo von 291 Stellen. Ausgeschrieben hatte das Ministerium allerdings zunächst 1200 freie Stellen, was eine Besetzungsquote von lediglich 80 Prozent ergibt.

„Bei der Dauererreichbarkeit für die Lehrkräfte müssen wir gegensteuern. Alle Beteiligten haben ein Anrecht auf Feierabend.“

Vier Gründe führte der Kultusminister an, die wohl zu dieser dramatisch schlechten Unterrichtsversorgung beigetragen haben. Zunächst sei da die Sonderlage durch die Pandemie. Neben der ohnehin angespannten Situation führe die fortschreitende Digitalisierung im Schulbetrieb zu einer Dauererreichbarkeit für die Lehrkräfte. Diese „Entgrenzung“ werde von vielen als äußerst belastend beschrieben, so Tonne. „Da müssen wir gegensteuern. Alle Beteiligten haben ein Anrecht auf Feierabend.“

Kritisch äußerte sich der Minister allerdings angesichts einer neuen Grundeinstellung vieler Lehramtsstudenten. Viele hätten sehr „starre Vorstellungen“ vom Einstieg in das Arbeitsleben, etwa hinsichtlich der Wahl der Schule, an der sie tätig werden wollen. Tonne fordert von den angehenden Lehrkräften mehr Flexibilität und appelliert an sie, angebotene Stellen auch anzunehmen.

Mehr Lehrer nehmen Elternzeit

Der zweite Aspekt, der zur schlechten Unterrichtsversorgung beigetragen hat, bringt den SPD-Politiker in eine Zwickmühle: Die Zahl der Lehrkräfte, die in Eltern- oder Familienzeit gehen, sei stark angestiegen. „Das ist total gut und soll auch so sein, wir haben schließlich politisch immer für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gekämpft“, erklärte Tonne. Im Vergleich zum vorherigen Schuljahr sei die Zahl der Stunden, die dadurch fehlten, allerdings um 14.000 gestiegen, was in etwa einem Prozentpunkt der Unterrichtsversorgung entspreche. „Das bringt uns planerisch aber in die Bredouille.“

Als weiteren Einflussfaktor für den Lehrermangel nannte Tonne außerdem noch steigende Schülerzahlen und wachsende Bedarfe im Ganztagsbereich und für die Inklusion. Eine Umverteilung der Lehrerstunden von diesem Bereich zum Regelunterricht lehnte Tonne aber ab. Zum einen, weil die Lehrkräfte aus der Elternzeit in absehbarer Zeit zurückkämen, zum anderen, weil ihm die Bedeutung dieser qualitätssteigernden Maßnahmen zu wichtig sei, um daran zu rühren. Im Kultusministerium wird daran gearbeitet, die Attraktivität des Lehrerberufs noch zu erhöhen, beispielsweise durch Programme für Quereinsteiger, eine  Flächenprämie und Unterstützungsangebote durch die Schulträger vor Ort.

Kultusminister Tonne verteidigt Präsenzunterricht

Die Schulen in Niedersachsen starteten auch in diesem Halbjahr wieder in Präsenz mit dem Unterricht – trotz der knapp 11.000 mit Corona infizierter Schulkinder. Tonne widersprach allerdings der Darstellung, das Kultusministerium lasse den Unterricht trotz steigender Corona-Fallzahlen unkontrolliert weiterlaufen. Es stimme, dass auch die Schulen nicht pandemiefrei seien, räumte er ein. Tonne betonte den Wert des Präsenzunterrichtes, weil die vergangenen Pandemiejahre gezeigt hätten, welche Konsequenzen das Homeschooling für die Schüler habe.

Zudem bezeichnete er Unterricht im sogenannten Szenario C als ungerecht, weil es dabei um die Frage ginge, ob Eltern die Ressourcen haben, das zu leisten oder nicht. Allerdings gebe es für Schüler sowohl ein Recht auf Bildung in Präsenz als auch ein Recht darauf, dabei gesund zu bleiben, führte Tonne aus. Flankiert wird der Schulbetrieb deshalb mit verpflichtenden täglichen Corona-Schnelltests, die zunächst für einen noch unbestimmten Zeitraum zum Schulalltag dazugehören werden.

Schulleitungen erhalten Handlungshinweise

Das Kultusministerium hat die Schulleitungen im Land mit einem Bündel an Hinweisen ausgestattet, erklärte Tonne. Dabei gehe es etwa um Regelungen zu den nun bald anstehenden Abschlussprüfungen. Diese sollen im Wesentlichen so ablaufen wie im Vorjahr. Tonne versicherte, dass es auch in diesem Jahr keine weniger wertigen Abschlüsse geben werde. Die Schulen bekämen aber mehr Freiheit bei den Themenschwerpunkten, die abgefragt werden.

Weitere Handlungsrahmen steckte das Kultusministerium für die Schulleitung ab für den Fall, dass ein Gesundheitsamt nicht rechtzeitig auf Infektionsfälle reagiert (im Notfall dürfen die Schulen eigenständig die Präsenzpflicht vorübergehend aussetzen). Das gelte auch für den Fall, dass nicht ausreichend Schnelltests geliefert werden konnten, sowie in Bezug auf die aktuell geltenden Quarantänebestimmungen.

Verbände und Parteien reagieren besorgt

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zeigte sich angesichts der „dramatisch schlechten Unterrichtsversorgung“ alarmiert und forderte von der Landesregierung zum wiederholten Male die Anstellung von 7000 neuen Lehrkräften für den Schulbetrieb. Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Julia Hamburg warf Tonne vor, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen und führt die fehlenden Lehrer auf die „Ausbildungsmisere“ zurück.

Björn Försterling (FDP) hält die mangelnde Attraktivität des Lehrerproblems für ein hausgemachtes Problem und bezieht sich damit auf die seiner Ansicht nach zu geringen Einstiegsgehälter. Christian Fühner (CDU) meint, es müsse mehr dafür getan werden, dass von den 1170 Absolventen des Vorbereitungsdienstes ein noch größerer Anteil anschließend an Niedersachsens Schulen die Arbeit aufnimmt.