Der Herbst 2019 bietet Anlass für Rückblicke: Was war in diesem Land los vor zehn Jahren, vor 20 Jahren, vor 30, 40, 50, 60 und 70 Jahren? In einer kleinen Serie wollen wir zurückschauen – und dabei versuchen, ein paar Grundlinien der politischen Entwicklung zu entdecken. Heute: Niedersachsen im Jahr 1969.


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Womöglich gilt es für die damalige Zeit stärker als heute: Die politische Prägung der Bundespolitik hat Rückwirkungen auf die Arbeit im Landtag. 1966 wurde in Bonn die Große Koalition unter Kanzler Kurt-Georg Kiesinger (CDU) und Außenminister Willy Brandt (SPD) gebildet – und sie verlief, allen Anfeindungen der beiden großen Parteien in den Wahlkämpfen zum Trotz, durchaus zielstrebig und sachorientiert. Als 1967 dann Landtagswahlen in Niedersachsen anstanden, hatten die Parteistrategen ein Interesse an Harmonie. Die erst ein Jahr zuvor gebildete neue Bundesregierung solle nicht durch Entwicklungen in Hannover gestört werden, also hatten sowohl Sozial- als auch Christdemokraten ein Interesse daran, die seit 1965 bestehende gemeinsame Arbeit in der Landesregierung auch fortzusetzen. Georg Diederichs, der für seine ausgleichende und landesväterliche Art bekannte Ministerpräsident, stand dafür. So kam es auch: Nach der Landtagswahl 1967, in der die CDU vier Prozentpunkte gewonnen und die SPD fast zwei Prozentpunkte verloren hatte, wurde das gemeinsame Bündnis fortgesetzt. Reich rechnerisch hätten auch SPD und FDP eine Mehrheit gehabt.

Landtagswahl brachte keine Stabilität

Aber für dauerhafte Stabilität war die Landtagswahl wohl keine gute Voraussetzung. Zum einen gab es 1968 und 1969 die außerparlamentarische Opposition, eine rebellische Studentenbewegung mit Auswirkungen auf die politische Linke – auch innerhalb der SPD. Diejenigen, die sich dem linken Flügel zugeordnet fühlten, wurden mutiger, preschten vor und suchten ihre Chance auf neue Mehrheiten. Der Aufbruch der „68er Bewegung“ war in vielerlei Hinsicht ein Generationskonflikt, und das auch in der SPD mit den Altvorderen auf der einen Seite, teilweise sehr autoritären Führungsfiguren, und den jungen Kräften auf der anderen. Die CDU im Landtag witterte unter ihrem Fraktionschef Bruno Brandes die Möglichkeit, mit Übertritten – auch aus der rechtsextremen NPD – eine Mehrheit im Parlament jenseits der SPD zusammenzuzimmern. Dies führte zu großen Spannungen in der Großen Koalition im Landtag und schließlich zu vorgezogenen Landtagswahlen, die 1970 mit einer absoluten Mehrheit der SPD in einem Zwei-Parteien-Parlament endeten. Parallel war in Bonn im Herbst 1969 die erste sozialliberale Koalition gebildet worden, ein Bündnis von SPD und FDP, wie es später (ab 1974) dann auch in Hannover für zwei Jahre möglich wurde.

In diesen aufgeregten Zeiten übertrug sich der aufrührerische Geist auch auf die Sozialdemokraten, vor allem im mitgliederstarken und machtbewussten Bezirk Hannover. Das war zehn Jahre, nachdem die Partei im „Godesberger Programm“ formal eine Abkehr von den Sozialismus-Vorstellungen kundgetan und sich damit für die Regierungsverantwortung gerüstet hatte. Im Herbst 1969 dann wurde Willy Brandt Kanzler. In Niedersachsen war von 1970 an Alfred Kubel der neue Ministerpräsident, Kultusminister wurde Peter von Oertzen, ein Hochschullehrer und Repräsentant des linken Flügels. Der starke Mann der „Rechten“ in der SPD, Hannovers langjähriger Bezirkschef Egon Franke, war 1969 in Bonn Minister für innerdeutsche Beziehungen geworden – damit ein Mann, der einerseits in der Bundespolitik stark gefordert war, andererseits seinen guten Draht zur Parteispitze um Willy Brandt damit noch verbessern konnte. Aber Frankes Autorität bröckelte. 1970 gelang es von Oertzen, Franke als Bezirkschef der SPD abzulösen. Aber so sehr der Kultusminister auch als „Linker“ galt, so stark hielt er Distanz zu jenen in der Partei, die noch weiter links angesiedelt waren und stets keine Berührungsängste zu der von der DDR finanzierten DKP hatten.

Die Linken in der SPD agierten nicht geschlossen

Es geschahen in der Folgezeit einige Entwicklungen, die heftige Konflikte und Veränderungen in der SPD anzeigten, allerdings auch deutlich machten, wie chaotisch das alles verlief. Dass „die Linken“ in der Partei geschlossen agiert hätten und aufgetreten wären, lässt sich nicht sagen. Es gab verschiedene Kreise und Grüppchen, die Veränderungen planten und auch durchsetzten, allerdings selten nach einem vorher ausgetüftelten, sorgsam abgewogenen und von breiteren Mehrheiten getragenen strategischen Plan. 1970 wurde der niedersächsische Innenminister Richard Lehners, den manche – durchaus auch einige bei den Linken – für einen möglichen künftigen Ministerpräsidenten gehalten hatten, vom Linksaußen-Herausforderer Bruno Orzykowski bei der Wahlkreisaufstellung in Hannover-Limmer gestürzt. Drei Jahre später geschah gleiches einem anderen führenden Sozialdemokraten, dem Sozialminister Kurt Partzsch, im Nachbarwahlkreis Hannover-Linden. Wieder war Orzykowski der Gewinner, ein Mann, der viele Genossen von seinem Leichtmetallwerk in Hannover-Linden mobilisieren konnte, und ein Mann ohne Berührungsängste auch zu den Kommunisten. Als ein Strippenzieher wurde der Lindener SPD-Ortsvereinschef Egon Kuhn angesehen, einem Mann mit Geschick zum Organisieren von Mehrheiten. Der spätere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst-Gottfried Mahrenholz, und der Jurist Jan-Wolfgang Berlit wurden auf diese Weise 1970 als Landtagskandidaten verhindert, denn urplötzlich trat ein junger Außenseiter hervor und sicherte sich überraschend die Mehrheit – Wolfgang Pennigsdorf. Ein anderer Coup gelang Kuhn, wieder unter Mitwirkung geschickter Taktiker aus der Linken, mit der Kür des Oberbürgermeisterkandidaten für die Wahl 1972. Gegen die beiden Favoriten der SPD-Altvorderen, den IG-Metall-Mann Albert Kallweit und den IG-Chemie-Mann Otto Barehe, setzte sich der anfangs belächelte Jungsozialist durch – Herbert Schmalstieg. Er blieb im Amt später dann sehr, sehr lange.

Das Jahr 1969 kann für einen Aufbruch in der SPD stehen, der die Partei nachhaltig prägte und veränderte. Die Honoratioren, die bis dahin auf treue Gefolgschaft in allen ihren taktischen Winkelzügen hoffen konnten, waren auf einmal entmachtet. (kw)