Als Jens Kestner gerade das erste Drittel seiner Parteitagsrede hinter sich hat, wird die Stimmung im Saal richtig ungemütlich. „Ich habe die Hand ausgestreckt zur Versöhnung“, sagt der Landesvorsitzende vorn am Mikrophon – und prompt ertönen aus den hinteren Sitzreihen kräftige Buh-Rufe. „Ich war immer bereit für eine Aussprache“, fährt Kestner fort, „aber dann war ich schockiert und traurig über Stimmen wie die, man müsse ,die Bande im Landesvorstand vertreiben‘.“ Wieder erklingen Buh-Rufe, nur noch kräftiger. Die Journalisten, die bis jetzt die aufgewühlten Reaktionen auf den Rechenschaftsbericht der AfD-Landesführung live miterleben durften, müssen jetzt den Saal verlassen. Die zulässige Höchstgrenze der Teilnehmer in der Halle, eine Corona-Auflage, sei überschritten, heißt es vom Landesvorstand.

Ich war immer bereit für eine Aussprache“: Niedersachsens AfD-Chef Jens Kestner am Sonnabend in Braunschweig Foto: kw

So beginnt die Versammlung in einer aufgewühlten, streckenweise feindseligen Atmosphäre. Zwei Lager im Landesverband, die landesweit rund 2400 Mitglieder zählt, stehen sich unversöhnlich gegenüber. Zum Parteitag wurde eingeladen, weil 19 Kreisverbände eine Aussprache forderten – und ein Forum schaffen wollten, den von ihnen ungeliebten Landesvorstand um Kestner anzugreifen. Laut Satzung musste in diesem Fall der Termin angesetzt werden.

Im Vorfeld hatte es verschiedene Versuche gegeben, die Zielrichtung des Treffens kurzfristig abzuändern – und einen Kompromiss zwischen den beiden Gruppen zu präsentieren. Sogar die beiden Bundesvorsitzenden Tino Chrupalla und Jörg Meuthen hatten im Hintergrund vermittelt.

Doch wenige Tage vor dem Parteitag deutete sich bereits an, dass die Hardliner hier wie dort zur Verständigung nicht oder noch nicht bereit sind. Hier agiert der Landesvorstand um Kestner, unterstützt vom Bundestagsabgeordneten Armin-Paul Hampel und dem Landtagsabgeordneten Stephan Bothe. Sie hatten bisher wenig Berührungsängste zum rechtsnationalen Lager. Auf der anderen Seite steht eine Gruppe um den General a.D. Joachim Wundrak, die als die Gemäßigten auftreten und Unterstützer im Westen des Landes und in der Region Hannover haben.

Der AfD-Parteitag am Sonnabend in Braunschweig – Foto: kw

Da die AfD in Niedersachsen kein Delegiertensystem kennt, kam es nun darauf an, welche der beiden Gruppen stärker mobilisieren würde. Am Morgen, als die ersten eintreffen, dominiert noch das Kestner-Hampel-Lager. Seine Anhänger nehmen in den vorderen Rängen Platz. Doch dann kommen immer mehr AfD-Mitglieder, bis der Saal schließlich fast gefüllt ist.

Als Chrupalla, ein ausgewiesener Kestner-Befürworter, in seinem Grußwort die Niedersachsen ermahnt, „von Verletzungen und Demütigungen abzulassen“, kommt Gemurmel auf. Später ergreift der Bundessprecher sogar deutlich Partei für das Kestner-Lager, indem er auf das Konfliktthema Bundestagsliste eingeht. Jetzt werden in den hinteren Rängen Zwischenrufe laut.

Nach Chrupallas Rede erhebt sich ein Drittel der Versammlung von den Plätzen und klatscht, zwei Drittel bleiben sitzen, die meisten von ihnen rühren keine Hand. Das scheint hier ein Gradmesser für die Stimmung zu sein: Etwa ein Drittel der Anwesenden könnte dem Kestner-Lager zugerechnet werden, zwei Drittel dem Wundrak-Lager. Das verspricht Hoffnung für jene, die einen Abwahlantrag gegen Kestner und drei seiner Mitstreiter gestellt hatten. Dafür könnte es, kurz nach dem Start des Parteitags, sogar eine Aussicht auf die nötige Zweidrittelmehrheit geben.

Die Corona-Lage wird Kestners Rettung

Doch es kommt dann anders. Die Corona-Lage wird für Kestner und seinen Getreuen zum rettenden Strohhalm. Die Halle ist nach Kestners Rede bis auf den letzten Platz gefüllt, und der Landesvorstand hatte vorher mit dem Braunschweiger Ordnungsamt geklärt, dass dort maximal 650 Teilnehmer sitzen dürfen.

Nun waren die Journalisten und die Mitarbeiter der Abgeordneten schon draußen, und die Tagungsregie zählte nun 649 anwesende AfD-Mitglieder im Saal, sieben warteten draußen darauf, noch eingelassen werden zu können – und zwei waren bereit, zu gehen und Platz für andere zu machen. Da dies bedeutet hätte, dass Mitglieder ihre Rechte nicht hätten wahrnehmen dürfen, entschied der Versammlungsleiter nach einer kurzen Sitzungspause, den Parteitag abzubrechen.

Die Schmach einer drohenden schweren Niederlage bleibt dem Vorstand damit erspart – und Alternativen werden verworfen, so die Öffnung der Seitenwände der Halle mit Einbeziehung von Sitzreihen draußen. Dass zu einem früheren Zeitpunkt die Halle schon für 800 Teilnehmer ausgelegt worden sei, hier aber der AfD-Landesvorstand mit maximal 650 kalkuliert und dies der Stadt mitgeteilt habe, geistert als Gerücht durch die Reihen der Teilnehmer, wird aber nicht offiziell diskutiert.

Weiter Unklarheit über die Bundestagsliste

Wie es nun weitergehen soll, bleibt offen. Eigentlich müsste der Landesvorstand den Parteitag baldmöglichst wiederholen – in einem noch größeren Saal. Doch wie soll das gehen, wenn gerade die AfD immer wieder auf Probleme stößt bei der Anmietung von größeren Versammlungsräumen? Besonders spannend wird die Frage, was im Streit um Anfang Dezember aufgestellte Bundestagsliste geschehen wird. Damals war genau an diesem Ort der Landesvorstand förmlich überrumpelt worden, eine Mehrheit stellte die Liste auf, in der die Bewerber des Landesvorstandes – auch Hampel und Kestner – gar nicht mehr berücksichtigt worden. Spitzenkandidat wurde Wundrak.

Anschließend tauchten Vermutungen auf, 24 AfD-Mitglieder seien zu der Versammlung gar nicht eingeladen gewesen, es gebe also schwere Formfehler. Das Kestner-Lager würde daher die Aufstellungsversammlung gern wiederholen, einen entsprechenden Antrag für diesen Parteitag hatten sie vorbereitet. Aus dem Wundrak-Lager heißt es, die Kestner-Leute würden die Formfehler nur behaupten, in Wahrheit seien die meisten der 24 doch benachrichtigt gewesen. Der Mangel werde lediglich vorgetäuscht mit dem Ziel, Kestner und Hampel bei einer Wiederholung der Aufstellung doch noch das Bundestagsmandat zu sichern.

Inzwischen ist der Konflikt über die Zulässigkeit der Bundestagsliste schon bei Landeswahlleiterin Ulrike Sachs im Innenministerium angekommen. Diese zeigte sich verwundert über die widersprüchlichen Angaben aus der AfD, und sie erklärte inzwischen, dass die AfD Klarheit schaffen könne, wenn sie von den 24 angeblich oder tatsächlich nicht eingeladenen Mitgliedern eidesstattliche Versicherungen vorlege. So lasse sich aufklären, wie schwerwiegend die Formfehler in der Versammlung Anfang Dezember tatsächlich waren.

Sollten am Ende große Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Bundestagsliste bleiben, droht die AfD Niedersachsen die Teilnahme an der Bundestagswahl zu verpassen. Nun könnte der Landesvorstand von sich aus zu einer Wiederholung der Versammlung einladen, die Frist dazu läuft im Juli ab. Aber haben Kestner und seine Kollegen nach der Pleite um den abgebrochenen Landesparteitag überhaupt noch die Kraft dazu? (kw)