Von Isabel Christian

Insgesamt 11.547 Kinder sind in Niedersachsen im vergangenen Jahr sexuell missbraucht worden. Doch das sind nur die Fälle, die bekannt geworden sind. Das Dunkelfeld ist um ein Vielfaches größer. Dazu kommen noch Fälle, in denen Kinder zwar nicht sexuell, aber körperlich und seelisch misshandelt wurden. Mit dem Schwerpunktthema „Körperliche Gewalt gegen Kinder“ haben sich mehrere hundert Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten und Soziologen beim Neujahrssymposium des Instituts für Rechtsmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) befasst. Dabei ging vor allem darum, wie man Missbrauch erkennt und Kinder davor schützt. Impulse gaben zwei vom Sozialministerium geförderte Präventionsprojekte.

Die Bilder, die Melanie Todt zeigt, Ärztin am Institut für Rechtsmedizin in Hannover, gehen den Teilnehmern sichtlich nahe. Kleine Kinder sind darauf zu sehen, mit blauen Flecken an Armen, Beinen, im Gesicht und am Po. Doch nicht alles sind Verletzungen durch Missbrauch. „Die zentrale Aufgabe der klinisch-forensischen Untersuchung ist die Frage: Stammen die Verletzungen von einem Missbrauch oder von einem Unfall, der vielleicht beim Spielen passiert ist?“, sagt Todt. Ärzte täten sich oft sehr schwer damit, solche Verletzungen einzuordnen. Zu groß sei die Angst, ein Fehlurteil zu treffen. Dafür gibt es seit 2011 die „Kinderschutzambulanz“ an der MHH. Deren Rechtsmediziner können von Ärzten zurate gezogen werden, wenn diese eine fachlich fundierte Einschätzung brauchen. Denn selbst wenn man die Zeichnungen aus den Lehrbüchern zu typischen Spiel- und Missbrauchsverletzungen kennt, stellt sich die Realität oft komplexer dar.

Warum eine Strafverfolgung oft scheitert

Todt erzählt vom Fall eines Zweieinhalbjährigen, den seine Mutter mit schweren Verbrennungen am Oberarm und Rücken zum Arzt bringt. Der Mediziner schickt die Unterlagen zur Sicherheit über das „Telekonsil“, eine sichere Datenleitung, an die „Kinderambulanz. Schnell finden die Rechtsmediziner heraus, dass ein Bügeleisen die Verbrennungen verursacht hat. Hat die Mutter ihren Sohn verbrüht? Sie behauptet, das Eisen habe auf einem Regal gestanden, ohne eingesteckt zu sein. Wie die Verletzungen zustande gekommen seien, könne sie sich nicht erklären. Die MHH stellt Strafanzeige und beauftragt die Rechtsmedizin, zusammen mit der Polizei der Sache nachzugehen. „Dabei ist der neunjährige Bruder des Jungen befragt worden, und er hat unter Tränen gestanden, er habe doch nur mal kurz seinen Bruder bügeln wollen“, sagt Todt. Ein Test zeigt: Der Junge kann tatsächlich das Eisen vom Schrank holen, das Kabel einstecken und genau 25 Sekunden später ist es so heiß, dass Dampf austritt. „Das ist ein Fall, der zeigt, dass die Maschinerie aus Rechtsmedizin, Polizei und Staatsanwaltschaft nicht nur darauf aus ist, Missbrauch aufzudecken, sondern zu klären, was tatsächlich passiert ist“, sagt Todt.

Tatsächlich gab es in der Mehrzahl der 1260 Fälle, die die Kinderambulanz seit 2011 erreicht haben, einen harmlosen Grund für die Verletzung. Doch es gibt auch genug traurige Fälle, hinter denen Missbrauch steckt. „Oft ist das an streifigen Hämatomen zu erkennen“, sagt Todt. Dem Abdruck von Fingern auf dem Gesicht etwa, oder Striemen auf Rücken und Beinen von Stock- oder Gürtelschlägen. „Das kommt leider immer noch oft vor.“ 137 Fälle hat die „Kinderambulanz“ bisher weitergeleitet an Polizei, Justiz und Jugendamt, zu 76 gab es ein Gutachten und auf 16 folgte eine Gerichtsverhandlung. Das ist eine niedrige Zahl, wenn man die Fälle von belegter Kindesmisshandlung dagegenhält. Doch oft scheitert eine Strafverfolgung an den Umständen.

Das Projekt „Kein Täter werden“

„Wir hatten vor einiger Zeit den Fall eines Jungen, dessen linke Gesichtshälfte nahezu komplett von einem Hämatom bedeckt war“, sagt Todt. Der Vater behauptete, der Junge sei aus einem Kinderhochbett gefallen. Doch das konnte nicht stimmen. Die Rechtsmediziner informierten die Klinik, in der der Junge versorgt wurde, und das Jugendamt. Doch die Klinik wollte nichts unternehmen, um das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht zu belasten, und das Jugendamt wollte die gute Zusammenarbeit mit der Familie nicht beschädigen. „Solche Situationen haben wir leider immer wieder“, sagt Todt. Doch die Mediziner geben sich damit nicht zufrieden. „Wir rufen in solchen Fällen bei der Staatsanwaltschaft an und lassen einen Vermerk über den Verdacht auf Misshandlung von Schutzbefohlenen anlegen“, sagt Todt. Dann wird von Amts wegen ermittelt.

Beim Projekt „Kein Täter werden“ dagegen geht es um die Prävention durch Therapie von Pädophilen. Zwölf Standorte hat das 2005 in Berlin gestartete Projekt in Deutschland, einer davon ist in Hannover. „Wir bieten pädophilen Männern ab 18 Jahren, die von sich aus motiviert sind, ihre Neigung in den Griff zu bekommen, Beratung und Therapie an“, erklärt Psychotherapeutin Constanze Jakob. Denn Pädophilie ist eine sexuelle Neigung, für die der Betroffene nichts kann. „Für sein Sexualverhalten aber schon“, sagt Jakob. Deshalb müssten Betroffene psychisch so aufgebaut werden, dass sie ihren Neigungen widerstehen. „Natürlich werden wir oft kritisch beäugt und auch angefeindet, weil wir mit diesen Männern arbeiten. Aber diese Männer sind nicht nur potenzielle Täter, sie sind auch ganz reale Opfer“, sagt Jakob. Dazu komme, dass nicht jeder Pädophile sexuellen Missbrauch begeht und nicht jeder sexuelle Missbrauch von einem Pädophilen verübt wird.

Zudem gebe es nicht den klassischen Pädophilen. Studien haben ergeben, dass Pädophile eher keine Kinder haben, aber in der Regel einen Job haben und gebildet sind. Ob sie allein oder mit Partner leben, spielt nur eine untergeordnete Rolle. „Deshalb appelliere ich an Sie als Ärzte“, wandte sich Jakob ans Publikum: „Fragen Sie Ihren Patienten offen nach seinen sexuellen Neigungen, auch wenn es schwerfällt.“ Denn oft werde diese Möglichkeit bei misshandelten Kindern übersehen, weil aus Scham nicht gefragt würde. 1021 Kontaktaufnahmen hat das Projekt „Kein Täter werden“ in Hannover bis Ende vergangenen Jahres verzeichnet, von Betroffen oder Angehörigen, die Rat suchten. In 326 Fällen wurde die Pädophilie klinisch diagnostiziert, bei 207 Personen hat das Projekt ein Therapieangebot gemacht. Und 82 Männer haben die Therapie begonnen. „Das klingt zunächst nach wenig. Aber wenn an jedem Standort zwei oder drei Männer durch die Therapie nicht zum Täter werden, dann hat sich die Arbeit schon gelohnt.“