Seit 20 Jahren setzt sich die „Stiftung Niedersachsen-Metall“ bereits dafür ein, die Bedingungen an den Schulen im Land zum Besseren zu verändern. Immer wieder trägt sie mit Impulsen und finanziellen Zuwendungen dazu bei, dass beispielsweise der Physikbereich einer öffentlichen Bildungseinrichtung mit zeitgemäßen Materialien ausgestattet werden kann. Doch dabei operierte die Stiftung stets nur im bestehenden System. Ginge es nach Ranga Yogeshwar, dem bekannten Wissenschaftsjournalisten, wäre es nun an der Zeit für etwas Größeres: für eine Revolution. „Wir brauchen eine Zeitenwende in der Bildungspolitik“, sagte Yogeshwar am Donnerstag beim jährlichen Bildungskongress der Stiftung im Schloss Herrenhausen in Hannover.

Ranga Yogeshwar (rechts) fordert eine Bildungsrevolution. Olaf Brandes hört gespannt zu. | Foto: Axel Herzig

Das eine, was Yogeshwar gerne abschaffen würde, wäre der Bildungsföderalismus – denn: Ist Mathematik in Hamburg etwas anderes als in Bayern? Das deutsche Bildungssystem erinnere ihn noch an das vorvorherige Jahrhundert und kultiviere ein „preußisches, autoritäres Gehorsamsprinzip“. „Ich möchte nicht mehr Beamte haben, die zu wissen meinen, wie es geht“, betonte er. Der aktuelle „Gleichmarsch“ wirke „absurd in Zeiten, in denen die ganze Welt um uns herum anders geworden ist.“ Deshalb brauche es einen Wandel weg von der Leistungsorientiertheit, wie Yogeshwar es nennt, hin zu einer Lernorientiertheit.

„Ich rufe auf zu einer Revolution, nicht polemisch, sondern mit Blick auf unsere Kinder und Enkel.“

Ranga Yogeshwar

Wer nur büffelt, um die nächste Prüfung möglichst gut zu bestehen, vergesse am Ende alles wieder – und lerne nichts, meint der Bildungsexperte. Künftig müsse es viel mehr darum gehen, dass die Schüler Leidenschaft für eine Disziplin entwickeln, weil sie merken, dass beispielsweise Mathematik auch das Leben schöner machen könne. Bereits vor 23 Jahren habe die Pisa-Studie auf Missstände im deutschen Bildungssystem hingewiesen. Dazu zähle auch, dass kein anderes Schulsystem so schnell aussiebe wie dieses. „50.000 Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss – aber mit tiefen Verletzungen und ohne Aussicht“, sagte Yogeshwar. „Wir tolerieren, dass ein Teil der jungen Menschen, die wir dringend brauchen, einfach verlorengeht – we don‘t care!

Das Verhältnis der Deutschen zu ihren Bildungsstätten verpackte er in ein eindrückliches Bild: „Wir haben eine Beziehung zur Schule wie zu einer Bahnhofsraststätte: schnell rein und wieder raus.“ Diese Haltung dürfe man sich nicht leisten, so Yogeshwar, denn: „Die Bildungsfrage wird über unsere Zukunft entscheiden.“ Er warnte gar vor echten Wohlstandsverlusten, wenn erst einmal die deutsche Automobilindustrie aufgrund des Fachkräftemangels den Bach heruntergegangen sei. „Ich rufe auf zu einer Revolution, nicht polemisch, sondern mit Blick auf unsere Kinder und Enkel.“

Volker Schmidt spricht beim Bildungskongress 2023 im Schloss Herrenhausen. | Foto: Axel Herzig

Die Veränderungen, die es nach Ansicht der Teilnehmer des Bildungskongresses nun braucht, müssen in den Schulen ankommen – aber in den übergeordneten Behörden starten. Dass es dort nicht gerade innovativ zugeht, hat derweil nicht erst die Pandemie aufgezeigt. „Corona kam und es ging nicht um die Frage, ob wir Windows-Teams für den virtuellen Unterricht nutzen, sondern ob wir die Fenster im Klassenraum überhaupt öffnen können“, merkte der Lehrer und „Bildungsinfluencer“ Bob Blume beim Kongress in Herrenhausen sarkastisch an. Die Botschaft: Die Behörden verhinderten, statt zu ermöglichen. Hinzu komme, dass Lehrkräfte nur noch zu einem Drittel ihrer Arbeitszeit mit dem Unterrichten beschäftigt seien – und ansonsten mit administrativen Tätigkeiten. So müssen Chemielehrer ständig Gefährdungsanzeigen schreiben, damit sie überhaupt noch Experimente im Klassenraum vorführen dürfen, kritisierte Yogeshwar.

Fordern Veränderungen im deutschen Schulsystem (von links): Ranga Yogeshwar, Volker Schmidt, Olaf Brandes und Bob Blume. | Foto: Axel Herzig

Blume bemängelte, dass es auch gar keinen definierten Bildungsbegriff mehr im Land gebe. Seinen Vorschlag dazu leitet er von dem britischen Philosophen und Mathematiker Alfred North Whitehead ab: Bildung sei der Erwerb der Kunstfertigkeit, sich Wissen nutzbar zu machen. Diese Definition, findet Blume, passe gut zum Begriff der Lernorientiertheit, wie Yogeshwar ihn erklärt hatte. „Es geht darum, inwieweit ich verstehe, dass das, was ich tue, eine sinnhafte Tätigkeit ist“, sagte Blume. Sei dadurch erst einmal die Motivation geweckt, könne das die Basis sein für eine tiefergehende Beschäftigung. Und genau dafür sollte die Schule da sein: Tiefe – und nicht mehr Breite in der Bildung, findet der Influencer. Es dürfe nicht sein, dass Schüler nach 9, 10 oder 13 Jahren die Schule verlassen und sich beim Zurückblicken fragen, was das eigentlich sollte.

„Diesen Link zwischen Begeisterung und Berufswahl wieder herzustellen, ist das Ziel der Stiftung, die wir nun vor 20 Jahren gegründet haben.“

Volker Schmidt

Die Leidenschaft fürs Lernen, da ist sich Niedersachsen-Metall-Chef Volker Schmidt sicher, komme aus dem praktischen Erleben. Deshalb sei die Ideen-Expo als Technik-Schau für junge Menschen auch ein solcher „Mega-Erfolg“. „Das ist auch ein Fingerzeig, was man didaktisch machen kann.“ Allerdings erlebe er auch, dass es unter den jungen Leuten zwar eine Technikbejahung und -begeisterung gebe, die aber nicht automatisch dazu führe, dass man sich auch in diesem Bereich beruflich niederlassen möchte. „Diesen Link zwischen Begeisterung und Berufswahl wieder herzustellen, ist das Ziel der Stiftung, die wir nun vor 20 Jahren gegründet haben“, sagte Schmidt.



Anlässlich des Jubiläums und angesichts der aktuellen Herausforderungen hat die „Stiftung Niedersachsen-Metall“ am Donnerstag ein Zehn-Punkte-Papier zur Reform des Bildungssystems vorgelegt. Zuallererst fordert die Stiftung darin, die Eigenständigkeit der Schulen wieder stärker zu fördern und dabei Verantwortung und Individualität zuzulassen. Als Schmidt vor den rund 400 Teilnehmern aus der Praxis, den Verbänden und Kammern sowie der Schulverwaltung ansprach, dass die Schulen endlich Budgethoheit erhalten müssten, erntete er dafür viel Applaus. Noch mehr davon erhielt er allerdings für seine Aussage, dass es nicht der richtige Weg gewesen sei, die Förderschulen in diesem Maß zu schließen, wie es geschehen sei. Im Eckpunktepapier der Stiftung finden sich außerdem die Forderungen nach einer Stärkung der Lehrkräfteausbildung, einer Steigerung der Unterrichtsqualität sowie einer Sicherstellung der Sprachkompetenzen etwa nach Schweizer Vorbild, wo verpflichtende Sprachkurse noch vor die Einschulung gezogen würden.

„Das Bildungssystem steckt noch in den Strukturen von vor 150 Jahren“, sagt Volker Schmidt. | Foto: Axel Herzig

Ferner sollte das Ziel, dass Schüler einen Abschluss erwerben, wieder sichergestellt werden. Die Digitalisierung solle weiter vorangebracht werden, wobei es um mehr als nur um das Anschaffen von Tablets gehen müsse. Zudem brauche es insgesamt angemessene und ansprechende Rahmenbedingungen, woran es vielerorts häufig hapere. „Der Umgang so mancher Kommune mit unseren Bildungsstätten stinkt zum Himmel“, sagte Schmidt beim Bildungskongress und fügte später an: „Das Bildungssystem steckt noch in den Strukturen von vor 150 Jahren.“

Kultusministerin Hamburg will mehr Vertrauen

Dass sich seit 150 Jahren nichts getan hätte, werde den Schulen nicht gerecht, konterte daraufhin Niedersachsens Kultusministerin Julia Hamburg (Grüne). Allerdings räumte sie eine gewisse Trägheit des Systems ein, die Expertenmeinungen zufolge dazu führe, dass selbst kleine Reformen häufig 20 Jahre bräuchten, um Wirkung zu entfalten. Diese Zeit, ist sich Hamburg sicher, habe man allerdings nicht. Mit vielen Forderungen des Eckpunktepapiers dürfte die Kultusministerin übereinstimmen, explizit aber mit der Idee, den Schulen mehr Freiräume einzuräumen. „Schaut man sich die Schulpreisträger an, fällt auf, dass die Schulen meist für Dinge ausgezeichnet werden, die die Kultusverwaltung eigentlich nicht erlaubt.“ Ihr Wunsch sei es deshalb, den Schulen nun mehr Gestaltungsspielräume zu eröffnen – ohne dabei zum offenen Rechtsbruch aufzurufen, weil von Regeln abgewichen werden muss, um modernen Unterricht zu gestalten.

Kultusministerin Julia Hamburg spricht beim Bildungskongress 2023 in Hannover. | Foto: Axel Herzig

Die Kultusministerin hat aus diesem Grund kürzlich einen Prozess initiiert, der diese Freiräume schaffen soll ohne die Schulen dabei zu überfordern, weil die Leitplanken fehlten. „Wir brauchen einen Rahmen, der Agilität zulässt. Freiräume bedeuten aber nicht Beliebigkeit oder Leistungsabfall“, stellte die Ministerin klar. Ein solches Gerüst würde auch der sich rasch wandelnden Welt viel mehr Rechnung tragen.

„Die Lerninhalte entwickeln sich so schnell weiter, dass die Kurrikula nicht hinterherkommen“, sagte Hamburg und fügte später exemplarisch allein für den medialen Fortschritt an: „Da hat der Lehrer gerade verstanden, was Facebook ist, und plötzlich gibt es Reels und alles fängt wieder von vorne an.“ Die Kultusministerin setzt ihre Hoffnung derweil in die Fähigkeiten der Lehrer vor Ort: „Unsere Lehrkräfte sind gut ausgebildet – trauen wir ihnen zu, dass sie wissen, wie sie ihre Schüler motivieren und das Beste aus ihnen herausholen können.“  

Der Bildungskongress der Stiftung Niedersachsen-Metall 2023. | Foto: Axel Herzig

Eine große Revolution, die Ranga Yogeshwar ausrufen wollte, muss man sowohl in den Forderungen der Stiftung als auch in den Ausführungen der Kultusministerin wohl nicht zwangsläufig sehen. Dafür dürften die skizzierten Ansätze in der Praxis deutlich leichter umzusetzen sein. Schmidt sagte dazu: „Wir bewegen uns mit unseren Eckpfeilern im bestehenden System, um kurzfristig Hinweise geben zu können, was man machen könnte.“ Dass die Schule der Zukunft begeistern muss, darin ist man sich jedenfalls einig.