Es könnte sinnbildlich sein: Die neuen Corona-Regeln bringen es mit sich, dass die Abgeordneten zwischen ihren Plätzen im Landtag einen gewissen Abstand halten müssen. So wirkten die Volksvertreter während der Plenarsitzung Mitte dieser Woche ein wenig vereinzelt, ja distanziert. Bei den Sozialdemokraten spiegelt das auch die aktuelle Stimmungslage wider. Denn die Wahlen zum Fraktionsvorstand am Montag haben ein ziemlich durchwachsendes Ergebnis zutage gefördert.


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Mehrere Leistungsträger der Fraktion wurden abgestraft, an der Spitze die Vorsitzende Johanne Modder. Die mit Nein stimmenden Abgeordneten nahmen für ihr Signal in Kauf, dass die Gesamtfraktion am Ende lädiert erscheint. Für Modder sprachen sich in geheimer Abstimmung 34 Abgeordnete aus, gegen sie waren 16. Zwei hatten sich enthalten. Damit erreichte sie gerade mal 65 Prozent. Die Vorsitzende gilt als sehr fleißige und stark engagierte Politikerin, doch Politik kann eben manchmal auch gnadenlos sein. Der Blick auf das Landtagsplenum auf die SPD-Fraktion machte deutlich: Jeder dritte Sozialdemokrat, der dort saß, hatte in der Wahl gegen die eigene Vorsitzende gestimmt.

Ein Warnschuss gegen die Vorsitzende

Längst hat in der SPD die Aufarbeitung begonnen, und die Analysen des Vorgangs teilen sich, grob geschätzt, in drei Gruppen. Die eine Gruppe sieht im Ergebnis einen „Warnschuss“ an die Vorsitzende. Modder, die in ihren öffentlichen Auftritten seit Jahren den Ministerpräsidenten lobt und nur überaus vorsichtig und selten offene Kritik am SPD-Teil in der Landesregierung übt, habe dem Bedürfnis der SPD-Fraktion nach einem eigenen Gewicht in der Landespolitik nicht ausreichend Ausdruck verliehen. Gerade jetzt, in der Corona-Krise mit ihrer nochmal potenzierten Dominanz der Exekutive, falle der Mangel auf. Viele SPD-Abgeordnete stehen unter enormen Druck, müssen seit Wochen Anfragen von aufgebrachten Bürgern und Geschäftsleuten zu den Rechtsverordnungen des Sozialministeriums entgegennehmen, können aber dann nur einräumen, auf deren Inhalt kaum Einfluss ausüben zu können. Die Krise ist die Stunde der Regierung, das bereitet vielen Parlamentariern regelrecht Schmerzen.

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Manche meinen auch, die Gesprächskultur in der Fraktion könne besser werden. „Kritik in der Sache wird oft persönlich genommen“, sagt ein Abgeordneter. Die nächste Gruppe sieht als Zielscheibe gar nicht Modder, deren Integrität hohe Anerkennung genießt, sondern Ministerpräsident Stephan Weil. So sehr sein joviales Auftreten in der SPD gerade jetzt gelobt, ja fast bewundert wird, so überzeugt sind viele SPD-Abgeordnete inzwischen auch, dass Weil im achten Jahr seiner Amtszeit zu bestimmend geworden ist, beinahe schon übermächtig. Insofern wäre Modders Wahlergebnis eher ein Signal an Regierung und vor allem die Staatskanzlei, stärker auf die Fraktion zugehen zu müssen.

Die Jungen scharren mit den Hufen

Es kursiert noch eine dritte Erklärung im Landtag, nämlich die, dass aus der Mitte der SPD-Landtagsfraktion eine wachsende Ungeduld Bahn bricht, die womöglich stärker von vielen Jüngeren und Ehrgeizigen ausgeht. Für viele der Abgeordneten, die bis auf zwei Ausnahmen alle 2017 direkt gewählt wurden und daher in ihren Wahlkreisen häufig „wie kleine Könige“ angesehen werden, sind die Wirkungsmöglichkeiten im Parlament und in den Ausschüssen eher begrenzt. Die meisten sozialdemokratischen Minister gelten nach einer langen Amtszeit als sehr gefestigt in ihren Rollen, Aufstiegschancen für die SPD-Abgeordnete ins Kabinett deuten sich nicht an. So ließe sich erklären, warum nicht nur Modder einen Denkzettel bei der Wahl bekam, sondern auch der langjährige Fraktionsvize Uli Watermann (58 Prozent), der als Weil-Vertrauter und Strippenzieher gilt.

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Das noch schlechtere Resultat für Fraktionsvize Christos Pantazis (56 Prozent) aus Braunschweig dürfte nun wieder andere Ursachen haben. Pantazis, der wiederholt in Fraktionssitzungen den Kurs des Ministerpräsidenten in Frage gestellt und abweichende Positionen geäußert hat, im Übrigen auch ein glänzender Rhetoriker ist, soll im Vorfeld gefragt worden sein, ob er nicht gegen Modder kandidieren wolle. Er lehnte ab und ließ sich von Modder in ein Vorstandstableau mit neuem Zuständigkeitsgebiet Wirtschaft einbauen. Jetzt wird in der SPD erzählt, Pantazis habe die Schuld an dem Debakel. Einige meinen, er hätte als Gegenkandidat antreten müssen. Wenn die Kritiker der Führung aber ohne eigene Kandidaturen mit Nein stimmen, ohne vorher in einer Fraktionssitzung den Kurs in Frage gestellt oder auch nur Kritik an der Eignung der Fraktionsvorsitzenden geäußert zu haben, dann sei das feige und schwäche nur den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Nur die offene Auseinandersetzung garantiere Vertrauen.

Andere entgegnen, solche Vorwürfe an Pantazis seien zutiefst ungerecht, zumal er doch immer wieder Kritik geäußert habe. Falsch sei ebenso die hier und dort zu hörende Unterstellung, „die Braunschweiger“ mit ihm als Speerspitze hätten bei Modders Wahl geschlossen mit Nein votiert. Die Unruhe, wird entgegnet, komme vielmehr aus vielen Teilen der Fraktion und sei nicht regional zuzuordnen. Pantazis dürfe kein Sündenbock werden.

Toepffer pflegt die Eigenständigkeit der CDU-Fraktion

Historische Vergleiche werden zuweilen gezogen. Mitte der neunziger Jahre, als Ministerpräsident Gerhard Schröder und sein treuer Fraktionschef Wolf Weber agierten, meldete sich Unmut über Schröders absolute Dominanz auf andere Weise. Einzelne Abgeordnete schrieben Positionspapiere und lancierten diese an die Presse, so begann seinerzeit der Aufstieg von Sigmar Gabriel und Thomas Oppermann, der beide bis ganz nach oben führte. In der zweiten Phase der Ära von Ministerpräsident Christian Wulff erlebte die CDU-Fraktion ähnliche Stimmungen, auch das war damals eine Protesthaltung gegen einen zu dominanten Ministerpräsidenten.


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Gegenwärtig erlebt auch die CDU-Landtagsfraktion, dass viele Abgeordnete gern stärker die Politik mitgestalten wollen. Vergangenen Dezember wurde die Führung um Dirk Toepffer mit im Schnitt mehr als 80 Prozent im Amt bestätigt, kein glanzvolles, aber ein respektables Resultat – jedenfalls im Vergleich viel besser als jetzt bei der SPD. Viele Sozialdemokraten sagen, Toepffer verstehe es in seinen Landtagsreden besser als die SPD-Fraktionsspitze, die Eigenständigkeit der Fraktion auszudrücken. Das kann auch daran liegen, dass Vize-Ministerpräsident Bernd Althusmann nicht die dominante Rolle bei den Christdemokraten hat, die Weil bei den Sozialdemokraten beansprucht.

Ein eigenes Projekt für die SPD-Fraktion

Unterdessen hat in der SPD schon die Lernphase begonnen, in vielen Gesprächen haben Abgeordnete, Ministerpräsident und Minister in den vergangenen Tagen ausgelotet, welche Lehren man aus den aktuellen Vorgängen ziehen sollte. Von einem „eigenen Projekt“ der SPD ist die Rede, einer Chance, den Abgeordneten mehr Spielraum zu geben, damit sie sich „austoben“ – beispielsweise in der neuen Kommission zur Stärkung des Ehrenamtes, die jetzt bald eingesetzt werden soll. Andere sprechen von einem notwendigen Erfolgserlebnis der Fraktion gegenüber der Regierung, beispielsweise eine Abstimmung, in der sich die Abgeordneten gegen die Staatskanzlei durchsetzen.

Wie die Landesgeschichte zeigt, kann so etwas durchaus Wunder bewirken. Vor vielen Jahren, als viele in der CDU-Landtagsfraktion unter der Dominanz des Kabinetts Wulff litten, zettelte die Fraktion eine Kampfabstimmung an – und besiegte die Regierung. Es ging um ein Konzept zur Tierkörperbeseitigung, nichts Revolutionäres, aber etwas unglaublich Symbolträchtiges. Noch Jahre nach dieser Kraftprobe brüsteten sich viele Abgeordnete damit. Politik hat eben ganz viel mit Psychologie zu tun. (kw)