Der deutsche Soziologe Harald Welzer hat mit seinem Buch „Die vierte Gewalt“ eine Streitschrift verfasst, die am gegenwärtigen Zustand der deutschen Medien kaum ein gutes Haar lässt. Das von ihm zusammen mit Richard David Precht verfasste Werk ist in Rezensionen heftig kritisiert worden – hat sich aber, oder vielleicht auch deshalb, sehr gut verkauft.

Fast zweihundert Gäste kamen zur Diskussionsrunde mit Stefan Lohr (v.l.), Harald Welzer und Arno Brandt. | Foto: Wallbaum

Welzer ist ein Publikumsmagnet, und so erschienen zu einer Veranstaltung des „Forums für Politik und Kultur“, der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und des Verdi-Bildungswerkes in Hannover mehrere hundert Zuhörer. Der Saal war bis auf den letzten Platz ausgebucht, und Veranstaltungsleiter Arno Brandt wagte zur Begrüßung auch die Prognose, dies könne unter anderem mit Welzers Vergangenheit zu tun haben. Er ist in der Wedemark geboren, hat an der Uni Hannover studiert und dort auch wissenschaftlich gearbeitet, bevor er nach der Jahrtausendwende die Region verließ. 

Welzer unterstellt Medien „eindimensionale Sichtweise“

Welzers These lautet, die großen Medienhäuser der Zeitungen, des Rundfunks und Fernsehens würden in Krisenzeiten nur einer Leit-Meinung folgen. Der öffentliche Diskurs laufe zudem noch so ab, dass alle anderen Meinungen ausgegrenzt und an den Rand gedrängt würden. Man freue sich nicht über Widerspruch, sondern spreche ihm die Berechtigung ab. Das zeige sich immer in großen Krisen, sei schon in der Corona-Pandemie deutlich geworden und jetzt noch einmal sehr deutlich im Ukraine-Krieg. Er nennt das „eine eindimensionale Sichtweise“ und sieht eine Verschärfung des Problems dadurch, dass sowohl die Ampel-Parteien wie die CDU/CSU eine ähnliche Politik verfolgten.

„Der journalistische Imperativ wandert von den Redaktionen zu den kaufmännischen Abteilungen der Verlage.“

AfD und Linke könne man vernachlässigen. Warum ist das so? Im Gespräch mit dem früheren NDR-Journalisten Stefan Lohr entfaltet Welzer seine Sichtweise: Ein Grund sei die Krise der Medien, die Verlagshäuser gerieten zunehmend unter Druck, bei Redakteuren (insbesondere Auslandskorrespondenten) werde massiv gespart, anstelle eigener redaktioneller Erkenntnisse stütze man sich zunehmend auf das Internet mit seinen fragwürdigen Quellen, oft auch Geheimdienstquellen. „Der journalistische Imperativ wandert von den Redaktionen zu den kaufmännischen Abteilungen der Verlage“, sagt Welzer. Es gehe dann nur noch um Reichweiten und Klickzahlen, folglich spielten Klamauk, Skandalisierungen und das An-den-Pranger-Stellen eine viel größere Bedeutung als ein ausgewogenes Ergebnis einer Recherche.



Besonders schlimm sind aus Welzers Sicht die „Comedians“, die mit Kabarettisten wie Gerhard Polt oder Dieter Hildebrandt aus der guten alten Zeit kaum noch etwas gemein hätten. Es gehe ihnen ums Lächerlich-Machen der politischen Figuren, um Bilder von Grimassen und merkwürdige Sätze. Die Oberfläche werde bewertet, nicht der Inhalt. „Das hat etwas von Mobbing und ist so billig“, meint der Soziologe. Man setze sich nicht mit Thesen auseinander, sondern man moralisiere. Welzers Analyse lautet, in Zeiten großer Verunsicherung, wie sie dieser Krieg in der Ukraine mit sich bringe, sei die Sehnsucht nach Eindeutigkeit groß, man wolle sich gegenseitig versichern, auf einer Wellenlänge zu liegen. Dabei wäre es aus seiner Sicht jetzt umso wichtiger, den Widerspruch herauszufordern und in Überlegungen einzubeziehen. Das geschehe aber nicht. Außerdem könne es gar keine Eindeutigkeit geben. „Niemand kann ernsthaft sagen, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht. Solche Ereignisse haben dann eine Eigendynamik.“

Autor widerspricht sich mit Auftritt selbst

In der Veranstaltung mit bald 200 Zuhörern dominiert die Haltung, dass man die Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen sollte. Viele hier haben einen entsprechenden „Friedensappell“ unterschrieben, viele sehen sich in der Tradition der Entspannungspolitik von Willy Brandt. Und Welzer selbst, der sich hier offenbar heimisch fühlt und sagt „Wir sind ja hier unter uns“, widerfahren dann Positionen, die seiner eigenen Theorie widersprechen. Er betont, dass man dem Philosophen Jürgen Habermas nie unterstellen dürfe, eigene Interessen zu haben – „man muss ihn an seinen Texten messen“.



Auf der anderen Seite macht sich Welzer dann aber lustig über die Außenpolitiker Norbert Röttgen und Johann Wadepuhl, denn die sind ja zum einen in der CDU und zum anderen für die Unterstützung der Ukraine. Da zeigt Welzer dann plötzlich die Tendenzen, die er in seinem Buch vorher noch so heftig kritisiert hatte – und das Publikum applaudiert ihm noch dafür. Ob die Zuhörer den Widerspruch erkannt haben? Dass Welzers Auftritt und die Resonanz in der Veranstaltung gleichzeitig die These von der medialen Dominanz einer bestimmten Richtung widerlegen, wird in der langen Diskussion nicht angesprochen. Vielmehr gefällt man sich hier, man ist ja unter sich.