Am 24. Februar griff Russlands Herrscher Wladimir Putin gegen jede Vernunft und gegen jedes rationale Kalkül die Ukraine an. All die diplomatischen Bemühungen, die in den Tagen zuvor besonders intensiv und rege gewesen sein mussten, stellten sich als erfolglos heraus. Wie stark hat dieses Ereignis die deutsche Gesellschaft erschüttert? Haben wir Lehren daraus gezogen – und, wenn ja, waren es die richtigen Lehren? Wie gut finden wir uns damit ab, dass der Traum von der friedfertigen, nach Vernunft und Toleranz geordneten Welt nun endgültig ausgeträumt ist? Die Rundblick-Redaktion beleuchtet in persönlichen, einordnenden Beiträgen einige Teilprobleme, die sich aus Putins mörderischem Völkerrechtsbruch ergeben. Hier geht’s zum Dossier.

Ein Jahr tobt der Krieg in der Ukraine: Rundblick-Redakteurin Audrey-Lynn Struck schreibt über die Auswirkungen auf das Bildungssystem. I Foto: Scheffen, GettyImages/Anna Koberska

Die Phrase, die wohl viele Lehrkräfte nicht mehr aus der Politik hören können, lautet: „Kreative Lösungen finden“. Zwei Lehrkräfte fallen wegen Schwangerschaft aus und eine Lehrkraft ist langfristig erkrankt? Dann musst du eben eine kreative Lösung finden. Ein Lehramtsstudent soll vor den Sommerferien acht Wochen an einer Schule einspringen, aber die Vertragslaufzeit für einen pädagogischen Mitarbeiter sind mindestens sechs Monate? Dann musst du eine kreative Lösung finden. Eigentlich werden Zusatzstunden in der Sprachförderung für ukrainische Schüler benötigt, aber die Anmeldefrist ist erst im Winter? Dann musst du eben eine kreative Lösung finden. 

„Das Schulsystem ist bereits an der Belastungsgrenze und das kommt dann auch noch dazu.“

Vor all den kreativen Lösungen, die Lehrkräfte in diesen Monaten finden müssen, würde Picasso ehrfürchtig den Pinsel ziehen. „Das hat mit Lehren nicht mehr viel zu tun“, so eine Lehrerin. Der Krieg in der Ukraine zeigt erbarmungslos einmal mehr die Schwächen im Bildungssystem auf: Der Fachkräftemangel trifft auf zusätzliche, teils sehr unmotivierte Schüler – und die Bürokratie schläft. „Das Schulsystem ist bereits an der Belastungsgrenze und das kommt dann auch noch dazu“, sagt Mathematiklehrer und Vorsitzender der „Jungen Philologen“ in Niedersachsen, Peter Gewald. Während von den Schulen und Lehrern vorausgesetzt wird, mit der Zeit zu gehen, sich beispielsweise auf die Digitalisierung einzustellen, scheint das Bildungssystem zu verharren. Stattdessen werden Nebenschauplätze aufgemacht, wie iPads für alle oder ein möglicher Verzicht auf Noten. Eins A. Oder sollte ich lieber schreiben: „Die Arbeitsleistung entspricht den Erwartungen“?

Nach zwei Jahren müssen die ukrainischen Schüler benotet werden

Ebenso wie vor Jahren mit dem damals sich ankündigenden Fachkräftemangel zeichnet sich auch bei den Ukrainern – und vielen anderen Kindern mit Migrationshintergrund, die nach Deutschland kommen – in der Schule ab: Das fällt uns auf die Füße. Die Integration droht schon jetzt zu scheitern. Die Folge sind perspektivlose junge Menschen, die eigentlich den Schlüssel gegen den Fachkräftemangel in ihren Händen halten. Mehrere Schulen berichten übereinstimmend von unmotivierten ukrainischen Schülern, die man aus Personalmangel nur schwer begeistern kann. Zumindest wird der Hinweis auf den Personalmangel als Ursache immer erwähnt. „Bei uns ist ein Drittel der Kinder motiviert und gibt sich Mühe, der Rest nicht. Da müsste man eigentlich alle 14 Tage zu Hause bei den Eltern anrufen“, sagt Christiane Kropp, Schulleiterin an der Gunzelin-Realschule Peine. Leistbar ist dieser Mehraufwand natürlich kaum.


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An der Hauptschule Munster ist es ähnlich. Viele Kinder hängen in der Luft. Sie glauben an eine baldige Rückkehr und lernen vermutlich deshalb kaum die deutsche Sprache. Und wer könnte es ihnen auch verübeln, so die einstimmige Meinung vieler Schulleiter. Doch die Uhr tickt. Nach spätestens zwei Jahren müssen die ukrainischen Schüler in irgendeiner Form benotet werden. Bleiben die Deutschkenntnisse weiterhin überschaubar, könnten Abschulungen drohen, die einmal mehr die überlasteten Oberschulen, Realschulen und Hauptschulen treffen dürften. Tatsache ist zudem: „Wenn man eine Unterrichtsversorgung von deutlich unter 90 Prozent hat, müssen häufig die Stunden der Sprachlernklasse gekürzt werden, zum Wohle der ganzen Klasse“, sagt Schulleiterin Kropp, die erst vor kurzem vor einer solchen Situation stand.  

Bürokratie blockiert schnelle Lösungen für die Sprachförderung

Man darf sich nicht wundern, dass Probleme so spät erkannt werden, wenn das System keine Möglichkeit lässt, diese abseits von irgendwelchen Zyklen zu melden. Ein einfaches Beispiel: Im März vergangenen Jahres kamen die ersten Ukrainer in Deutschland an. Schon zu diesem Zeitpunkt war absehbar, dass an den Schulen mehr Zusatzstunden in der Sprachförderung nötig sein werden. Doch die Beantragungsfrist für zusätzliche Unterstützung ist immer am Jahresende. So mussten Niedersachsens Schulen ein Dreivierteljahr mit der Beantragung abwarten. Zum neuen Schuljahr, also nach den kommenden Sommerferien, werden zusätzliche Kapazitäten für die Sprachförderung gewährt. Das Niedersächsische Bildungssystem macht sich damit die beliebte Trabi-Strategie der DDR zu eigen. Man schiebt die Lieferzeit möglichst weit nach hinten, damit niemand merkt, dass das Lager praktisch leer ist. Und die Problematik setzt sich fort. „Regelmäßig kommen Schüler zu uns aus Ländern wie Serbien, Afghanistan, Syrien oder auch den Philippinen, die kein Deutsch sprechen“, sagt Axel Adler, Schulleiter an der Hauptschule Munster. Der Anteil an ausländischen Schülern an Hauptschulen in Deutschland ist seit Jahren sehr hoch. 2020 lag der Anteil bei 28 Prozent, an den Gymnasien waren hingegen nur sechs Prozent mit ausländischem Hintergrund. So entwickelt sich immer mehr eine gesellschaftliche Schieflage.

Wo immer sich Quereinsteiger, Lehramtsstudenten oder ehemalige Lehrkräfte aus der Ukraine anbieten, dürfen dem formale Hürden nicht einen Strich durch die Rechnung machen. Liebes Kultusministerium, findet ihr doch einmal eine kreative Lösung.