Nach der Europawahl wirken die Parteivorstände von Sozialdemokraten und Christdemokraten wie aufgescheuchte Hühnerhaufen. Alle laufen durcheinander, jeder scheint seine eigene Linie zu verfolgen. Man verliert die Übersicht, vor allem bei der SPD. Bei ihr stellt sich die Frage, ob weitere Niedersachsen in hohe verantwortliche Positionen kommen sollen. Bei der CDU geht es eher darum, ob der Druck auf Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer, eine Regierungsumbildung anzuschieben, eher zu- oder abnehmen soll. Dabei sind die strategischen Optionen aller Beteiligten höchst unterschiedlich. Wir versuchen eine Einordnung.

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Die Abwartenden: Noch in der Wahlnacht warnte Ministerpräsident und SPD-Landeschef Stephan Weil ausdrücklich vor Personaldebatten in der SPD. Später ließ er sich wiederholt so vernehmen, dass an Andrea Nahles als Partei- und Fraktionsvorsitzender (vorerst) nicht gerüttelt werden solle. Weil möchte nichts überstürzen. Im SPD-Bundesvorstand soll er mit Innenminister Boris Pistorius aneinandergeraten sein, als dieser sich für eine rasche Beendigung der schwarz-roten Bundesregierung ausgesprochen hatte.

Weils Strategie ist schwer zu durchschauen. Es heißt, er sei durchaus nicht abgeneigt, im Fall der Fälle den SPD-Vorsitz zu übernehmen – allerdings gekoppelt an die starke Machtposition als niedersächsischer Ministerpräsident. Eine vorzeitige Neuwahl, wie sie mit einem Ende der Großen Koalition in Berlin wahrscheinlich wäre, würde einen SPD-Chef Weil allerdings unter Druck setzen, auch Kanzlerkandidat zu werden – dies mit derzeit eher schlechten Erfolgsaussichten. Deshalb hat er kein Interesse an vorzeitigen Neuwahlen im Bund.

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Das gilt auch für einen zweiten mächtigen niedersächsischen Sozialdemokraten, Bundesarbeitsminister Hubertus Heil aus Peine. Weil und Heil bilden seit langem eine Achse, der Ministerpräsident half dem angeschlagenen Heil jüngst vor dessen Wiederwahl als Braunschweiger SPD-Bezirkschef. Heils Grundrenten-Kampagne vor der Europawahl zündete nicht wirklich, deshalb gilt er derzeit nicht mehr als der Heilsbringer. Ein Bruch der Bundesregierung und vorgezogene Neuwahlen hätten für Heil das Risiko, dass er – wie Nahles und auch Olaf Scholz – geopfert werden könnte, da er, obwohl erst 46 – zum alten Establishment der SPD gerechnet wird.

Der Drängelnde: Innenminister Boris Pistorius ist in internen SPD-Gremien offenbar als eine Art Schrittmacher aufgetreten, er zweifelte den Sinn der weiteren Regierungsbeteiligung der SPD auf Bundesebene an. Will Pistorius also vorzeitige Neuwahlen im Bund? Seinem Interesse dürfte das eher zuwiderlaufen. Der niedersächsische Minister verspürt offenkundig große Lust auf einen Wechsel in die Bundespolitik. Doch er steckt in einem Dilemma. Seine Popularität verdankt er seinem Ministeramt in Hannover. Kandidiert er für den Bundestag, so ist derzeit das Risiko groß, dass er danach erst einmal einfacher Abgeordneter in Berlin wäre – und damit weniger Aufmerksamkeit als bisher bekäme.

Deshalb darf vermutet werden, dass der Jurist Pistorius gern den Platz der scheidenden Bundesjustizministerin Katarina Barley übernehmen würde. Sein wahres Interesse dürfte also der Fortbestand der Großen Koalition sein. Wenn Pistorius als niedersächsischer Innenminister ausscheidet, stünden zwei mögliche Nachfolger mit Format im Landtag bereit – die Abgeordneten Christos Pantazis (Braunschweig) und Wiard Siebels (Aurich). Sie stehen für die Generation der 40-Jährigen.

Der Überzeugungstäter: In den Spekulationen über eine Nachfolge von Andrea Nahles als Chefin der Bundestagsfraktion fällt immer öfter der Name des SPD-Linken im Bundestag, Matthias Miersch aus Laatzen. Er wird im Juni neuer SPD-Bezirkschef von Hannover, verbreitert also seine Machtbasis in der Partei. Miersch hat sich bisher, obwohl klar ein Linker, aus den Flügel-Grüppchen der SPD im Bundestag weitgehend herausgehalten – und genießt den Ruf als heller Kopf, der mehr Überzeugungstäter als Taktiker ist. Er wäre als Fraktionschef denkbar, aber auch als Umweltminister, zumal die Umweltpolitik seit langem sein Schwerpunkt ist – und er den Klimawandel weit überzeugender vertreten kann als Amtsinhaberin Svenja Schulze, die als NRW-Politikerin auch viel Rücksicht auf die Belange der Kohleindustrie nehmen muss.

Miersch hat zusammen mit anderen SPD-Linken am Tag nach der Wahl ein Papier geschrieben, in dem er klar für eine rot-rot-grüne Option wirbt und auch ein vorzeitiges Ende der Großen Koalition in Berlin nicht ausschließt. Insofern ist er auch ein Drängelnder – aber klug genug, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten.

Der Undurchsichtige: In der CDU wächst nach einigen Pannen, die sich die neue Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer geleistet hat, die innere Unruhe. Es hat den Anschein, dass sich die eher rechts der Mitte formierten Kräfte, die Ende 2018 lieber Friedrich Merz zum neuen Chef gewählt hätten, stärker mit Kritik an der neuen Vorsitzenden hervortun als andere. Auffällig ist nun die Rolle von CDU-Landeschef Bernd Althusmann.

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Zweimal hat er in den vergangenen Tagen öffentlich dem Konrad-Adenauer-Haus klar widersprochen – das erste Mal, als in einem von dort verbreiteten Strategiepapier Kritik am „Rechtsruck“ in der Jungen Union laut wurde, das zweite Mal, als sich Kramp-Karrenbauer missverständlich zur Meinungsfreiheit eingelassen hatte. Dennoch blieben Althusmanns Worte maßvoll, sie wirkten nicht konfrontativ.

Viele auf Bundesebene aktive CDU-Politiker aus Niedersachsen dürften indes auch kein großes Interesse an einem Bruch der Koalition haben, weil sie gegenwärtig im Machtsystem gut eingebunden sind. Das gilt für Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen, Kanzleramt-Staatsminister Hendrik Hoppenstedt und die Parlamentarischen Staatssekretäre Maria Flachsbarth und Enak Ferlemann.

Ganz anders der quirlige Bundesvorsitzende der JU, Tilman Kuban. Er gilt als Anhänger vorgezogener Neuwahlen und Scharfmacher. (kw)