Viel zu selten erregt das, was im Plenarsaal des niedersächsischen Landtags geschieht, so viel Aufmerksamkeit wie das, was sich an diesem Mittwoch entlang der Fassade des Hohen Hauses zugetragen hat. Gegen 6 Uhr in der Frühe meldeten Pförtner des Landtags der Polizei, dass sich Personen auf dem Dach des Parlamentsgebäudes befänden.

Stundenlang hingen die Transparente am Landtagsgebäude. | Foto: Kleinwächter

Am Ende waren es um die 20 Aktivisten der Umweltschutzorganisation „Greenpeace“, die sich mithilfe von Hebebühnen Zugang zu dem Plateau oberhalb des Plenarsaals verschafft, sich teilweise abgeseilt und anschließend große gelbe Transparente an der Seite hin zum Platz der Göttinger Sieben und entlang der Fassade rund um den Kubus-artigen Bau angebracht haben. Ihr Anliegen: Gasbohrungen vor Borkum sollen gestoppt werden. Auf der Tagesordnung des Parlaments stand dieses Thema derweil diesmal nicht. In der Vergangenheit hatte das Parlament diesem niederländischen Energieprojekt zuerst die Zustimmung entzogen – und dann angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine und der daraus folgenden Energiekrise wieder erteilt. Eine Kehrtwende, die die Umweltaktivisten nicht nachvollziehen wollen.

Doch rechtfertigt das eine derartige Belagerung des Landtags? Über die Beurteilung der Aktion gingen die Meinungen unter den Abgeordneten weit auseinander, wie sich im weiteren Verlauf des Tages noch zeigen sollte. Während die einen von Hausfriedensbruch und Straftätern sprachen und eine Beeinträchtigung der freien Mandatsausübung sahen, wollten die anderen davon wenig wissen, spielten die Aktion herunter und luden die Aktivisten sogar zum Kaffee ein.

Aktivisten baumeln vor dem Fenster des Plenarsaals

Doch zunächst eröffnete Landtagspräsidentin Hanna Naber (SPD) die Plenartagung mit einer in norddeutsch-nüchternem Tonfall vorgetragenen Erklärung, was sich bisher zugetragen hatte und wie es nun weitergehen sollte. „Wie Sie bemerkt haben, führt Greenpeace eine Aktion durch“, begann sie ihre Ausführungen als spräche sie über eine Kunstinstallation in der Portikus-Halle.

In der Tat konnte aber niemand diese Aktion übersehen haben; nicht einmal dann, wenn man den Landtag aus einer anderen Himmelsrichtung oder durch den unterirdischen Verbindungstunnel zwischen dem Erweiterungsgebäude und dem Leineschloss betreten hätte. Denn die senkrecht angebrachten Transparente mit der Aufschrift „No New Gas!“ wurden in einer Weise vor den mittleren beiden großen Fenstern des Plenarsaals angebracht, dass sie den Abgeordneten den Blick nach draußen versperrten, den Raum abdunkelten und man den Schriftzug aber immerhin noch erahnen konnte. Zuweilen sah man auch Aktivisten direkt vorm Fenster im Rücken der Regierung an Seilen baumeln.

„Die Polizei hat Kooperationsgespräche geführt und dadurch den Zugang zum Landtag wieder hergestellt.“

Naber führte weiter aus, dass zeitgleich zum Anbringen der Transparente an der Fassade auch noch vor der Portikus-Treppe Banner aufgestellt und der Zugang zum Landtag dadurch behindert worden sei. „Die Polizei betrachtet die Aktion als Versammlung“, setzte Naber an, was allerdings mit höhnischem Gelächter aus der rechten Haushälfte quittiert wurde. Die Landtagspräsidentin forderte daraufhin Respekt gegenüber den Sicherheitskräften und fuhr fort: „Die Polizei hat Kooperationsgespräche geführt und dadurch den Zugang zum Landtag wieder hergestellt.“

Tatsächlich bedroht fühlte sich von dieser Aktion erkennbar niemand. Die Polizei hatte lediglich erklärt, die Demonstranten nicht ohne Gefährdung für die Einsatzkräfte entfernen zu können. Ansonsten galt: „An oberster Stelle steht für uns die Sicherheit der Menschen da oben“, wie eine Polizeisprecherin gegenüber dem Politikjournal Rundblick erklärte. „Höheninterventionskräfte“ seien angefordert worden. Zur Rechtslage stellte sie klar: Alle auf dem Dach hätten sich strafbar gemacht und auch die Demonstranten vor dem Landtag haben zumindest insofern gegen geltendes Recht verstoßen, als dass ihre Demonstration nicht ordnungsgemäß angemeldet worden war.

Doch trotz dieser Rechtslage regte sich abgesehen vom Gelächter bei der AfD-Fraktion ungewöhnlich lange Zeit im Plenum des Landtags keine hörbare Empörung über die Störaktion der Umweltaktivisten. Die Erregung staute sich unterdessen gerade bei der CDU-Fraktion erst ganz langsam auf. Als Jens Nacke, Landtags-Vizepräsident und CDU-Abgeordneter, sich draußen kurz ein Bild von der Lage verschaffen wollte, raunte er nur: „Straftäter“, und stimmte zu, dass es soweit gar nicht hätte kommen dürfen.

Minister Lies will deeskalieren und lädt Aktivisten ein

Den inhaltlichen Parlamentsbetrieb erreichte die Protestaktion derweil erst ein wenig später – und ausgerechnet ausgelöst durch den Versuch der Landesregierung, die Situation zu deeskalieren. Kurz vor 10 Uhr hatte sich Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) vor das Landtagsgebäude begeben und am Fuße der Portikus-Treppe das Gespräch mit den Aktivisten gesucht. Ruhig und sachlich aber zugewandt, wie es seine Art ist, versuchte er, mit den Frauen in den Greenpeace-Jacken über ihr Anliegen zu reden. Dabei machte er immer wieder deutlich, dass es in einem Rechtsstaat verlässliche Verfahren brauche, egal ob es sich um Erdgas-Bohrungen oder Windpark-Anbindungen handelte – und dass bei den Genehmigungen die Behörden und nicht die Politik entscheiden sollten.

Die Umweltaktivisten beriefen sich derweil auf eigene Tauchgänge an jener Stelle, wo das niederländische Unternehmen nach Erdgas bohren möchte. Dabei habe man ein schützenswertes Riff vorgefunden, von dem sie auch großformatige Foto-Motive vor dem Landtagseingang zeigten. Ein tatsächliches Problem, um das sich der Minister nun aber kümmern will, ist der Umstand, dass das ihm unterstellte Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie (LBEG) die Informationen über diese längst bekannte besondere Formation im Meer offenbar im Genehmigungsverfahren nicht berücksichtigt hat.

Olaf Lies sucht das Gespräch mit den Aktivisten und lädt zwei von ihnen zum Kaffee in den Landtag ein. | Foto: Kleinwächter

Eine entscheidende Wendung nahm das Gespräch mit den Demonstrantinnen allerdings, als die Unterhaltung eigentlich schon beendet war. Der Dialog-orientierte Wirtschaftsminister setzte noch einmal an und betonte, dass es für einen solchen Austausch ja genügt hätte, einen Termin anzufragen. Man müsse die Gesprächsebene nicht dadurch herbeiführen, dass man Transparente anbringt, sagte er und lud die beiden Aktivistinnen sogar zum Kaffee ein.

Auf die Einlösung dieser Kaffee-Einladung mussten die Sprecherinnen, von denen sich eine als Greenpeace-Energieexpertin Anike Peters vorstellte, nicht lange warten. Lies nahm die beiden sogleich mit hinein in den Landtag, führte sie hinter die Sicherheitskontrolle und ging mit ihnen ins Café auf der Parlamentsebene – direkt vorm Eingang zum Plenarsaal.

Gute zwanzig Minuten unterhielten sich der Minister und die hinzugezogene Regierungssprecherin Anke Pörksen mit den Aktivistinnen. Die beiden Regierungsvertreter bemühten sich darum, ihr Handeln in Sachen Gas-Förderung zu rechtfertigen. Geheim oder konspirativ war an diesem Austausch nichts, sowohl Abgeordnete als auch Journalisten konnten mit am Hochtisch stehen und dem Gespräch folgen.

„Das Gebäude, in dem das Parlament tagt, muss frei von äußerem Druck bleiben.“

Wenige Meter entfernt sorgte dieser Vorgang dann allerdings für Empörung. Carina Hermann, die Parlamentarische Geschäftsführerin der CDU-Landtagsfraktion, beantragte zu Beginn der Haushaltsdebatte eine Unterbrechung und eine Sondersitzung des Ältestenrates, damit sich dieser zu dem Vorgang verhalten könne und geklärt würde, warum die Transparente auch Stunden später noch immer an der Fassade hingen. Alfred Dannenberg (AfD) sagte: „Das Gebäude, in dem das Parlament tagt, muss frei von äußerem Druck bleiben. Dazu gehört auch, dass keine Transparente an dem Haus hängen dürfen. Nun frage ich mich, warum hängt das Transparent da noch? Gibt es in Hannover keine Feuerwehr, die das wieder entfernen kann?“

„Die Debatte in diesem Raum ist zu keiner Sekunde an diesem Tage beeinträchtigt gewesen, es sei denn, sie kämen zu dem Schluss, es käme jetzt nicht genug Sonnenlicht rein.“

Die Regierungskoalition zeigte an dieser Stelle allerdings mehr als deutlich, dass ihnen der „Greenpeace“-Protest überhaupt keine Sorgen bereitete und lehnte den Antrag der CDU ab. Wiard Siebels, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, spielte das Vorgehen gar herunter. „Die Debatte in diesem Raum ist zu keiner Sekunde an diesem Tage beeinträchtigt gewesen, es sei denn, sie kämen zu dem Schluss, es käme jetzt nicht genug Sonnenlicht rein“, sagte er an die CDU-Politiker adressiert. Sein Kollege von den Grünen, Volker Bajus, drückte Sympathie für die Anliegen der Aktivisten aus und ging sogar so weit, diese für das gesamte Land anzunehmen: „Den Anlass des Protestes teilen wir alle als Niedersachsen: den Schutz des Wattenmeeres.“

Für die Opposition ist klar: das ist Hausfriedensbruch

Ganz anders bewertete die Opposition die Situation: „Ob das hier eine legale Aktion ist oder nicht, steht gar nicht in Zweifel. Das Ob ist geklärt: Es ist Hausfriedensbruch“, sagte CDU-Fraktionschef Lechner und forderte von Regierungschef Stephan Weil (SPD) eine Stellungnahme dazu, die jedoch ausblieb. Weil saß auf seinem Platz an der Regierungsbank, den Blick nach unten in Akten vertieft. Die von der CDU verlangte Einordnung habe am Morgen bereits die Landtagspräsidentin vorgenommen, hielt Siebels Lechner entgegen und warf ihm vor, nur von der vermeintlichen eigenen Inhaltsleere in der Haushaltsdebatte ablenken zu wollen. Einen Hausfriedensbruch will Siebels explizit nicht gesehen haben. Eine ganz entscheidende Frage aber stellte Klaus Wichmann von der AfD: „Würden Sie auch so reagieren, wenn Unliebsame, wenn Reichsbürger da draußen demonstrieren würden?“ Eine Antwort gab es darauf keine, und doch ist jedem klar, wie sie lauten würde.



Einige Zeit später, als die Transparente entfernt und die Demonstranten von Spezialkräften vom Dach geholt worden waren, wendete sich das Blatt auch im Parlament. Kurz vor Eintritt in die parlamentarische Mittagspause bekannte Minister Lies, einen Fehler gemacht zu haben. „Die Aktion von Greenpeace heute war rechtswidrig und nicht akzeptabel“, sagte er, der gleichwohl seine Dialogbereitschaft rechtfertigte. Das Gespräch in der Lobby fortgesetzt zu haben, sei in Anbetracht der Weigerung der Demonstranten, das Dach zu räumen, allerdings ein falsches Zeichen gewesen, räumte er ein. Wie der Landtag um kurz vor 12 Uhr dem Politikjournal Rundblick mitteilte, hat die Landtagsverwaltung inzwischen einen Strafantrag wegen Hausfriedensbruch gestellt.