Im März 1952 fand in Braunschweig ein Gerichtsprozess statt, der in der Betrachtung der bundesrepublikanischen Geschichte zuletzt nicht allzu große Beachtung gefunden hat. Und doch war er von außergewöhnlicher Brisanz. Nicht wegen des offiziellen Sachverhalts, der verhandelt wurde – es ging lediglich um Verleumdung und Beleidigung. Und auch nicht wegen des Strafmaßes, das verhängt wurde – der Beschuldigte wurde zu einer dreimonatigen Haftstrafe verurteilt, der er sich durch Flucht entzog. Dennoch war es bemerkenswert, was damals im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Braunschweig passierte. Denn es war das erste Mal, dass ein deutsches Gericht feststellte, dass das Nazi-Regime ein Unrechtsstaat war, und dass man gegen diesen Unrechtsstaat legitim aufbegehren durfte, wie es die Widerstandkämpfer vom 20. Juli 1944 getan hatten.

Foto: Niklas Kleinwächter; Fritz Bauer Institut / A. Mende

Vor wenigen Tagen machte Landesjustizministerin Barbara Havliza (CDU) während ihrer Rundreise zum 75jährigen Bestehen des Landes Niedersachsen Station in Braunschweig, um diesen historischen Vorgang aus den 1950er Jahren wach zu rufen – und jenes Mannes zu gedenken, der ihn möglich gemacht hat: Fritz Bauer. Einem größeren Teil der interessierten Bevölkerung wird Bauer ein Begriff sein im Zusammenhang mit der Entführung des früheren SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann nach Israel oder mit den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt. Diese beiden Vorgänge fallen in seine Zeit als Generalstaatsanwalt in Hessen. Doch schon zuvor vollbrachte Bauer wichtige Arbeit zur Aufarbeitung der deutschen Nazi-Vergangenheit – und zwar in Braunschweig. Dort wirkte Bauer nach seiner Rückkehr aus dem dänischen Exil ab 1949 als Landgerichtsdirektor. Im Jahr darauf wurde er Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht und blieb dies bis zu seinem Wechsel nach Frankfurt am Main im Jahre 1956.

Wendepunkt der deutschen Vergangenheitsbewältigung

In diese niedersächsische Schaffensphase des sozialdemokratischen Juristen fiel nun jener Fall, der zum ersten Wendepunkt der eigenständigen deutschen Vergangenheitsbewältigung werden sollte. Es handelte sich dabei um den sogenannten Remer-Prozess, ein strafrechtliches Verfahren gegen den früheren Wehrmachtsoffizier Otto Ernst Remer, der im Jahr 1944 in Berlin an der Verhinderung des aufkeimenden Putschversuchs nach dem gescheiterten Hitler-Attentat vom 20. Juli maßgeblich beteiligt war.

Um Remers Verhalten 1944 ging es in dem Prozess allerdings nicht, sondern um Äußerungen, die er 1951 getätigt hatte. Remer war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst festgenommen und interniert, schließlich in einem Entnazifizierungsverfahren aber als unbeteiligt eingestuft worden. Anschließend ließ er sich im niedersächsischen Varel (Landkreis Friesland) nieder und fing an, sich in der Sozialistischen Reichspartei (SRP) zu engagieren, die er mitgegründet hatte. Die SRP war in der Nachkriegszeit in Norddeutschland ausgesprochen populär, bei Kommunal- und Landtagswahlen konnten die Nachfolger der Nationalsozialisten große Erfolge einfahren.

Historiker Prof. Gerd Biegel | Foto: Kleinwächter

Der Historiker Prof. Gerd Biegel bezeichnete bei der Veranstaltung mit Ministerin Havliza Remer als Chefideologen der SRP, der mit seiner Vision eines Gesamtdeutschen Reiches vor allem deshalb gut habe punkten können, weil er eine „naiv nostalgische Erinnerungsduselei“ in Niedersachsen vorgefunden habe. Ein Klima, das gespeist wurde aus der Mischung von Altnazis und Ostflüchtlingen, die von der Roten Armee aus ihrer alten Heimat vertrieben worden waren.

„Es geht um die Rehabilitierung der Widerstandskämpfer – und sonst nichts.“

Auf einer Wahlkampfveranstaltung im Mai 1951 bezeichnete Remer dann die Widerstandskämpfer vom 20. Juli als Landesverräter – vermutlich nicht zum ersten Mal. Historiker Prof. Biegel berichtete, dass die mehr als 1000 Zuhörer in der Braunschweiger Schützenhalle diese Äußerungen sogar mit „Jubel und zustimmendem Gebrüll“ quittiert haben sollen. Doch von prominenter Stelle wollte man dies nicht mehr hinnehmen. Niemand geringerer als der Bundesinnenminister Robert Lehr (CDU) stellte Strafantrag gegen Remer, später gelang ihm sogar das Verbot der SRP.

Zunächst wollte das Gericht das Verfahren gegen Remer allerdings nicht aufnehmen – offiziell, weil man Lehr die Berechtigung absprach, inoffiziell, weil der Oberstaatsanwalt selbst eine Nazi-Vergangenheit hatte. Doch Bauer sah die Sache anders, erkannte wohl Potenzial in dem Vorgang und sorgte schließlich dafür, dass das Verfahren aufgenommen wurde. Für Bauer war aber ohnehin klar, dass dieser Prozess größer sein wird als ein Strafverfahren wegen Verleumdung. Laut Prof. Biegel sagte er: „Es geht um die Rehabilitierung der Widerstandskämpfer – und sonst nichts.“

Moraltheologen begutachteten den Soldateneid

Dass dieser Prozess eine ganz neue Dimension haben sollte, zeigte sich recht schnell. Das lag nicht nur aber auch daran, dass mehr als 70 internationale Journalisten die Verhandlung beobachteten. Auch die gesamte SRP-Führung habe sich um Plätze im Gerichtssaal bemüht, erläuterten die Bauer-Experten bei der Veranstaltung mit Havliza. Bemerkenswert war aber auch, wie Bauer schließlich den Prozess argumentativ aufgezogen hat. Hans Stallmach, freier Mitarbeiter beim NDR und Fachmann für Fritz Bauer und den Remer-Prozess, beleuchtete in seinem Vortrag zwei Gutachten, die der Generalstaatsanwalt Bauer beauftragt hatte. Diese waren ungewöhnlich, weil sie von zwei Moraltheologen verfasst und vorgetragen wurden, einem evangelischen und einem katholischen.

Journalist und Bauer-Experte Hans Stallmach | Foto: Kleinwächter

Wie Stallmach darstellte, war es für Bauers große Argumentation hin zur Rehabilitierung der Attentäter besonders wichtig, sich mit der Frage des Soldateneides zu befassen. Um gerade in den konservativ-bürgerlichen Kreisen beeindrucken zu können, mussten die Argumente aber aus dem kirchlichen Kontext kommen – außerdem habe Bauer darauf geachtet, die Frage des Kommunismus möglichst aus dem Verfahren herauszuhalten, weil dies in Zeiten des Kalten Krieges zum Problem hätte werden können.

Eine Argumentation, die alles ins Wanken bringt

Stallmach berichtete in seinem Vortrag von einer Flut von Zuschriften, die Bauer damals aus der Bevölkerung erhalten habe. Diese ließen sich in drei Gruppen gliedern. So gab es die einen, die die Idee einer Rehabilitierung aufs Schärfste ablehnten. Sinngemäß hieß es in diesen Zuschriften, dass ein Eid nicht gebrochen werden dürfe – daran könne auch ein Staatsanwalt nichts ändern, nicht einmal dann, wenn er den Papst als Zeugen vorlade. Eine andere Gruppe unterstützte Bauer und forderte, Leute wie Remer zu inhaftieren.

Bezeichnend für jene Zeit und die Gefühlslage der jungen Bundesrepublik war aber eine dritte Gruppe. Jene Bürger, die in diese einsortiert werden können, brachten ihre Sorge zum Ausdruck, dass diese neue Argumentation, die den Eidbruch als Option darstellt, das gesamte Konstrukt dieser Generation ins Wanken bringen könnte – denn dann hätte sich auch jeder andere dazu entschließen können. Die Schuld würde plötzlich potenziert und übertragen auf jeden ehemaligen Wehrmachtsangehörigen. Prof. Biegel schilderte, dass genau diese Kritik am Ergebnis des Remer-Prozesses noch bis in die jüngste Vergangenheit wirkte, wenn betagte Menschen Bauer-Ausstellungen kritisieren, weil diese Argumentation ihre Angehörigen nachträglich zu Tätern machte.

Theologen bekräftigten Bauers These

Die Moraltheologen bestätigten schließlich Bauers These – für Christenmenschen sei der Bruch des Soldateneides auf den „Führer“ legitim gewesen. Von katholischer Seite sei vorgebracht worden, dass sich ein Eid stets an etwas höheres zu richten habe, also Gott oder das Wohl des Staates. Der katholische Sachverstände habe den Führer-Eid also aus christlicher Sicht demontiert, sagte Bauer-Experte Stallmach. Auf evangelischer Seite sei dies etwas fragiler gewesen, denn Luther habe dem Herrscher immer eine große Autorität beigemessen. Schließlich argumentierte aber auch der evangelische Sachverständige in Bauers Sinne und sagte, dass der Tyrannenmord erlaubt sei, wenn der Staat zur Bestie geworden ist. Der einzige Vorwurf, den man den Widerstandskämpfern machen könnte, sei der, erst so spät gehandelt zu haben.

In der Urteilsbegründung spielten diese moraltheologischen Gutachten keine wirkliche Rolle. Doch für Bauers Schlussplädoyer waren sie zentral, wie Prof. Biegel zu berichten weiß. Darin leitete der Generalstaatsanwalt Recht und Pflicht zum Widerstand gegen den Unrechtsstaat vom Sachsenspiegel über die Göttinger Sieben und die Magna Charta her. Zudem berichtete er, der Widerstandskämpfer Carl Friedrich Goerdeler habe die Pflicht zu eben jenem Widerstand sogar aus Hitlers Pamphlet „Mein Kampf“ selber abgeleitet.

Wegen dieser argumentativen Strategie ordnet Prof. Biegel den Remer-Prozess in seiner Bedeutung für die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit schließlich ein zwischen den Nürnberger-Prozessen und dem Frankfurter Auschwitz-Prozess. Ganz praktische Konsequenzen hatte das Urteil außerdem: Der Stauffenberg-Witwe hatte man bis zu diesem Zeitpunkt ihre Offizierswitwenrente verweigert. Das änderte sich durch die posthume Rehabilitierung ihres Mannes.

Generalstaatsanwalt Detlev Rust und Justizministerin Barbara Havliza | Foto: Kleinwächter

Fritz Bauer hat durch seine juristische Arbeit das Wesen der Bundesrepublik verändert und nachhaltig geprägt. Havliza nannte ihn deshalb bei ihrem Besuch in Braunschweig „eine Legende“. Und Bauers viel späterer Nachfolger, der amtierende Generalstaatsanwalt Detlev Rust, mahnte angesichts dieses Andenkens: „Eine Demokratie kann nur leben, wenn es Demokratinnen und Demokraten darin gibt.“