Im ersten halben Jahr der neuen Legislaturperiode konnte man den Eindruck gewinnen, keine Fraktion des niedersächsischen Landtags interessiere sich so sehr für die Belange von lesbischen, schwulen, bisexuellen, inter- und transgeschlechtlichen Menschen in Niedersachsen wie die Fraktion der AfD. Mit drei kleinen und einer dringlichen Anfrage haben die Abgeordneten der „Alternative für Deutschland“ versucht, ihr Wissen über Beratungsangebote für transgeschlechtliche Jugendliche, queere Projekte in Gifhorn, Pubertätsblocker und die Haltung der Landesregierung zum Selbstbestimmungsgesetz der Ampel-Koalition aufzubessern.

Ist queere Politik für rot-grün nur Symbolpolitik oder lässt sich die Landesregierung die Unterstützung der LSBTI-Community tatsächlich etwas kosten? | Foto: Kleinwächter

Die anderen Fraktionen schwiegen derweil, wohl um der AfD keine Angriffsfläche zu bieten. Doch das wird sich bald ändern, denn im Hintergrund bereitet man gerade den neuen LSBTI-Aktionsplan des Landes vor. Im Idealfall soll noch vor der Sommerpause im Landtag erstmals darüber gesprochen werden, was sich SPD und Grüne in diesem Themenfeld vorgenommen haben. Auf Seite 85 ihres Koalitionsvertrages wird es kurz und knapp angesprochen.

Landesregierung bereitet LSBTI-Aktionsplan vor

Symbolträchtig wäre es zumindest, mit der Beratung im Juni-Plenum und damit im sogenannten „Pride-Monat“ zu beginnen. Und dass Rot-Grün auf diese Symbole achtet, beweist die Landesregierung bereits an diesem Mittwoch. So wird beispielsweise Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) heute (17. Mai) gemeinsam mit Hannovers Polizeipräsidentin Gwendolin von der Osten eine Regenbogenfahne hissen und die Vize-Ministerpräsidentin Julia Hamburg (Grüne) spricht auf dem hannöverschen Opernplatz zur „queeren Community“ – aus Anlass des heutigen Gedenk- und Aktionstages gegen Homo- und Transfeindlichkeit.

Der 17. Mai bildet den Startpunkt einer ganzen Reihe von Kundgebungen und Straßenfesten, die in den kommenden Wochen wieder auf der halben Welt und auch in mindestens 15 Städten in Niedersachsen in Erinnerung an den Emanzipationskampf der queeren Gemeinschaft begangen werden. Auch die Politik wird bei diesen Gelegenheiten wieder Flagge zeigen. Im Landtag wird die Regierungskoalition dann aber beweisen müssen, dass sie mehr als nur Symbolik für die queere Community übrighaben – sondern auch Positionen im nächsten Haushaltsplan, für den die Regierung im Juli einen Entwurf erstellt.



Denn so ein LSBTI-Aktionsplan klingt zwar zunächst einmal gut in den Ohren der Adressaten, kann aber auch schnell zu Schaufensterpolitik werden. „Ein solcher Plan muss natürlich auch mit Geld hinterlegt sein“, mahnt deshalb Nico Kerski im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. Kerski ist Geschäftsführer vom „Queeren Netzwerk Niedersachsen“ (QNN), jenem Verein, der als Erstzuwendungsempfänger vom Land damit beauftragt wird, die Fördergelder für queere Projekte sinnvoll zu verteilen. Deshalb weiß er sehr genau, wo noch etwas getan werden muss – und was er dafür benötigt. Das aktuelle Budget in Höhe von insgesamt 540.000 Euro für alle queeren Angebote des Landes reiche bei weitem nicht aus, sagt der QNN-Geschäftsführer. Es müsse mindestens verdoppelt, bedarfsgerecht sogar verdreifacht werden, rechnet er vor. Und selbst dann läge der Betrag im Ländervergleich in Relation zur jeweiligen Bevölkerungszahl noch unterhalb des Bundesdurchschnitts. Spitzenreiter sind dabei Berlin und Nordrhein-Westfalen.

Nico Kerski | Foto: QNN

Aber was braucht die queere Community überhaupt noch im Jahr 2023? Ist nicht inzwischen alles erreicht? Den größten Bedarf verzeichnet das QNN nach eigenen Angaben im Bereich der geschlechtlichen Vielfalt, also bei Angeboten für trans- oder intergeschlechtliche Menschen. „Wenn bei uns das Telefon klingelt, kann ich mir ziemlich sicher sein, dass es um dieses Thema geht“, sagt Kerski. Ein gesellschaftlicher Fortschritt im Bereich der sexuellen Orientierung ist spürbar, Lesben und Schwule wenden sich immer seltener an Beratungseinrichtungen. Aber der Beratungsbedarf bei Menschen, bei denen die geschlechtliche Identität nicht mit dem biologischen Geburtsgeschlecht übereinstimmt, steige seit Jahren.

Repräsentativen Bevölkerungsumfragen zufolge wächst die Zahl derjenigen, die sich nicht als heterosexuell oder cis-geschlechtlich verorten, also im Einklang mit der von außen zugeschriebenen Geschlechtsidentität, mit jeder Generation weiter an. Entsprechende Beratungsangebote für diejenigen, die sich mit ihrer zugeschriebenen Identität unwohl fühlen, gibt es in Niedersachsen allerdings nicht besonders viele. Aus Landesmitteln wird derzeit nur das Angebot in Lüneburg gefördert. In Hannover und Oldenburg gibt die Kommune Geld dafür aus und in Braunschweig wird es demnächst ein Angebot aus Mitteln der „Aktion Mensch“ geben. Andere Beratungsstellen laufen derweil komplett ehrenamtlich.

Beratungsstellen auch in Aurich oder Leer geplant

Weil Kerski davon ausgeht, dass der Beratungsbedarf nicht zuletzt aufgrund des von der Bundesregierung geplanten Selbstbestimmungsgesetzes, weiter anwachsen wird, fordert er an dieser Stelle eine entsprechende Anhebung der Landesförderung. Das Gesetz soll es einfacher machen, den juristischen Geschlechtseintrag zu ändern. Kerski betont, dass es künftig fünf oder sechs Beratungsstellen in Niedersachsen geben sollte, die bei lokalen Trägervereinen angedockt sein könnten.

Jede Beratungsstelle sollte zudem mit einem Konzept ausgestattet sein, wie das Angebot dann aufs umliegende Land ausstrahlen kann. Dabei spiele digitale Beratung natürlich auch eine Rolle, aber gerade beim Erstkontakt sei es sinnvoll, wenn man einander von Angesicht zu Angesicht begegnen kann, sagt der QNN-Geschäftsführer. Deshalb sollte beispielsweise eine Beratungsstelle in Oldenburg regelmäßig auch in Aurich oder Leer vor Ort ansprechbar sein. „Wir brauchen dabei ein Konzept aus einem Guss“, sagt Kerski. Dazu gehören auch einheitliche Qualitätsstandards, an denen das QNN gerade in Abstimmung mit dem Sozialministerium arbeitet. Veranschlagter Kostenpunkt für das landesweite Beratungsangebot: mindestens 160.000 Euro.

Foto: LSVD/Michael Wallmüller

Dieser Posten allein erklärt aber noch nicht den postulierten Wunsch nach einer Verdreifachung des Budgets. Kerski hat über die Trans-Beratung hinaus einen Plan, der detailliert beziffert, welcher Bereich künftig wie viel Geld mehr braucht. Von den 540.000 Euro, die das Land in den zurückliegenden Haushaltsplänen insgesamt pro Jahr für Queerpolitik bereitgestellt hat, sind 70.000 Euro für sächliche Verwaltungsausgaben im zuständigen Referat des Sozialministeriums vorgesehen, 100.000 Euro kamen vom Kultusministerium und gingen direkt an das an Schulklassen gerichtete Aufklärungs- und Antidiskriminierungsprojekt „Schlau“, die übrigen 370.000 Euro gingen ans QNN. Mit 151.000 Euro davon finanziert der Verein seine Geschäftsstelle, je 35.000 Euro gingen an die „Landeskoordination Inter*“ und die „Landesfachstelle Trans*“, mit den übrigen 219.000 Euro wurden regionale Projekte im ganzen Land gefördert.

QNN fordert Aufstockung der Finanzierung

Künftig, so wünscht es sich Kerski, müsste die Finanzierung der QNN-Geschäftsstelle und der beiden „Landesfachstelle für Trans* und Inter*“ erheblich aufgestockt werden, um die wachsenden Aufgaben bewältigen zu können. Zudem fordert er finanzielle Mittel für Projekte gegen queerfeindliche Hasskriminalität. Zusätzlich zu den Ansprechpersonen, die die Polizei inzwischen vorsieht, stellt man sich beim QNN eine zivilgesellschaftliche Anlaufstelle für queere Menschen vor, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität Gewaltopfer geworden sind und damit nicht zuerst zur Polizei gehen möchten.



Auch wenn queere Personen im öffentlichen Raum sichtbarer werden, sieht Kerski immer noch Bereiche, in denen es einen gesteigerten Aufklärungsbedarf gebe: etwa im Sport oder im schulischen Umfeld. Für das Projekt „Vielfalt in Bewegung“, das derzeit noch von der Lotto-Sport-Stiftung finanziert wird, setzt Kerski künftig auf einen Landeszuschuss, um Projekte zur sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt gemeinsam mit dem Landessportbund anbieten zu können.

Ergänzend zu „Schlau“, das sich speziell an Schüler wendet und derzeit mehr als doppelt so viele Anfragen erhält, wie es wahrnehmen kann, möchte man beim QNN künftig auch das Projekt „Schule der Vielfalt*“, das Informationen und Schulungen auch für Lehrkräfte und Schulleitungen anbietet, finanziell ausstatten. Derzeit wird das Angebot, bei dem bereits vier Schulen in Niedersachsen mitmachen, rein ehrenamtlich betreut. Doch auch hier sorgt der generationelle Wandel für erhöhten Beratungsbedarf, etwa wenn es um Toiletten für das dritte Geschlecht oder die entsprechend korrekte Zimmerzuteilung bei Klassenfahrten geht.

Eine Regenbogenflagge weht vor dem Rathaus in Hannover. Ist jetzt endlich die Zeit für mehr queere Politik gekommen? | Foto: Kleinwächter

Mit Kultusministerin Hamburg und Sozialminister Andreas Philippi (SPD) sind nun gerade die zwei Mitglieder der Landesregierung mit den Themen der LSBTI-Politik befasst, die im vergangenen Herbst auch in den Koalitionsverhandlungen den entsprechenden Absatz gemeinsam formuliert haben. Hamburg hatte dabei die „Kampagne für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in Niedersachsen“ aus der Zeit der vorherigen rot-grünen Landesregierung im Kopf, an die sie gerne anknüpfen wollte. Damals gab es im Doppelhaushalt 2017/18 jeweils 1,3 Millionen Euro – ein Betrag also, der irgendwo zwischen einer Verdopplung und einer Verdreifachung der aktuellen Summe liegt. Nun bleibt abzuwarten, welche Beträge SPD und Grüne in Gedanken am Rand der Seite 85 ihres Vertragswerks notiert haben. Daran wird sich zeigen, was nur symbolisch gemeint war – und wo Rot-Grün in der Queerpolitik Farbe bekennt.