Als Saskia Esken ihre Rede gerade beendet hat, brandet in der großen Halle des Berliner Kongresszentrums Beifall auf. Kein Jubel, sondern freundlicher, höflicher Applaus. Die Delegierten erheben sich und klatschen – mitten unter ihnen auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil und andere führende Politiker des Landesverbandes. Da stehen sie und zeigen demonstrativ ihre Zustimmung. Mehrere Minuten lang muss das schon sein, denn es ist ein Zeichen: Die Delegierten des Bundesparteitags, die zum mittleren Establishment der Partei gezählt werden, zeigen mit der Geste ihre Versöhnung mit den Kandidaten, die bei der Mitgliederbefragung ausdrücklich gegen die Empfehlung dieses Establishments gewonnen hatten. Minuten später, als Norbert Walter-Borjans seine Vorstellung beendet hat, geschieht das Ritual erneut.

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Dabei wissen viele in der SPD: Die Art, wie die Führung auf solchen Parteitagen gefeiert wird, hat wenig zu tun mit dem Grad der wirklichen Unterstützung. Sie spiegelt oft nur eine vermeintliche Einigkeit vor. Eine Delegierte sagte dazu: „Ich war schon dabei, als auch Sigmar Gabriel einst für seine Rede gefeiert wurde – und das Ergebnis ist ja bekannt.“ Nun liegt die Gabriel-Zeit schon ein paar Jahre zurück, und in der Riege der früheren Vorsitzenden, die als Gäste diesem Bundesparteitag in Berlin beiwohnen, ist er auch nicht vertreten. Ebenso wenig wie ein anderer Niedersachse, der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder. Beide werden in den Redebeiträgen, die hier gehalten werden, auch nur selten erwähnt.


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Eine andere dagegen, die ebenfalls nicht erschienen ist, erfährt gleich mehrfach Dankesbekundungen – die zurückgetretene Andrea Nahles, deren Abschied im Juni die langwierige Nachfolgesuche erst erforderlich gemacht hatte. Wenn aber der Kurs von Schröder und Gabriel, der auf die Mitte zielte, nicht mehr gefragt ist in der SPD, wie steht es dann um die so stolzen Sozialdemokraten aus Niedersachsen? Sie bilden mit etwa 80 der 600 Delegierten eine der größten Landesgruppen, die Partei gilt bundesweit als eine der stabilsten.

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Erst allmählich hat sich in den vergangenen Tagen der Kurs der Niedersachsen-SPD in der Bundespartei herausgeschält. Als am 30. November das Resultat der Mitgliederbefragung bekannt wurde, war auch in Hannover der Schock groß. Fast alle Funktionsträger hatten sich nach der ersten Runde für Olaf Scholz und Klara Geywitz stark gemacht – weniger aus Überzeugung als aus Berechnung, mit dem Vizekanzler die größte Garantie auf eine geordnete und berechenbare Zusammenarbeit zu haben. Außerdem schien das Risiko eines Bruchs der Großen Koalition in Berlin mit Scholz und Geywitz am geringsten. Das Verhältnis von Stephan Weil gerade zu Esken gilt als gespannt, das ließ der Ministerpräsident auch wenige Tage vor der Abstimmung in einem Interview erkennen.

Und nun? In gewohnter Weise schaffte es die Spitze der Landespartei, in mehreren Konferenzen die Reihen zu schließen. Auf den Fluren des Bundesparteitags wurden die Niedersachsen neckisch schon als „Stalinisten“ bezeichnet, nicht wegen politischer Inhalte, sondern wegen der strikten Geschlossenheit, um die der Landesverband von anderen beneidet wird.

Abschied und Neuanfang: Die Interims-Spitze wird vom neuen Führungsduo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans verabschiedet – Foto: MB.

Die Marschrichtung, die von den Bezirken Hannover, Weser-Ems, Braunschweig und Nord-Niedersachsen entwickelt wurde, sah so aus: „Wir wollen im Zentrum bleiben“, sagt ein Parteistratege, der nicht namentlich genannt werden will. Das bedeute, Niedersachsen wolle eine starke Kraft im Herzen der Partei bleiben und achte deshalb auf die gleichgewichtige Vertretung aller Strömungen im Parteivorstand. Außerdem legten die Niedersachsen Wert darauf, an wichtigen Schaltstellen weiterhin eigene Leute sitzen zu haben.

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Folglich stritten sie dafür, dass Lars Klingbeil aus Soltau, der Generalsekretär, weiterhin Manager im Willy-Brandt-Haus bleibt. Das war nicht schwer, da auch die beiden neuen Bundesvorsitzenden ihn halten wollten, schließlich sind sie als Neulinge auf einen angewiesen, der den Apparat schon kennt. Schwieriger war das zweite Ziel der Niedersachsen, nämlich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil als Vize-Bundesvorsitzenden durchzusetzen.

Heil soll sich zunächst selbst gemeldet haben, heißt es, aber schon bald hätten auch einige andere Vertreter der Niedersachsen-SPD die Vorzüge seiner Rolle im Vorstand erkannt. Als einziger Vertreter der Bundesregierung im Parteivorstand kann er ein Kontaktmann sein, früh Missverständnisse ausräumen und mögliche Irritationen verhindern. Außerdem wäre er für die Niedersachsen neben Klingbeil der zweite Garant für Kontinuität – ein Anker zum Landesverband wie zur Bundesregierung.

Doch zunächst schien Heil schwer durchsetzbar. Die SPD hatte ursprünglich vor, die Zahl der Vize-Vorsitzenden auf drei zu kürzen. Da Generalsekretär und Schatzmeister Männer sind, müssen wenigstens zwei der drei Vize-Vorsitzenden Frauen sein, damit die Quote annähernd erreicht wird. Geywitz und Anke Rehlinger (Saarland) galten als gesetzt, also würden Juso-Chef Kevin Kühnert und Heil beim dritten Platz gegeneinander kämpfen müssen.

Doch das Risiko erschien vielen Strategen zu groß zu sein. Hätte Kühnert verloren, wären die Jungsozialisten womöglich auf totale Konfrontation zur Großen Koalition gegangen. Hätte Heil verloren, so wäre nach Scholz der nächste sozialdemokratische Bundesminister schwer beschädigt worden. Also wurde entschieden, die geplanten Vorstandsverkleinerung an dieser Stelle abzusagen. Statt drei gibt es nun fünf Stellvertreter, zusätzlich kommt noch die Vorsitzende des Landesverbandes Schleswig-Holstein als fünfte Vertreterin hinzu, damit die Quote hält.

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Am Ende kommt es dann auch so – auch wenn Heil, ebenso wie Kühnert, bei der Wahl der Vizes mit 70 Prozent eher bescheiden abschneidet. Der Bundesparteitag läuft dennoch recht harmonisch über die Bühne, die Niedersachsen-SPD bleibt in der Führung vertreten – und die führenden Leute des Landesverbandes, deren Sympathie für Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans bisher nicht sonderlich ausgeprägt war, zeigen sich jetzt wohlwollend und betont freundlich gegenüber der neuen Führung.

Wie lange das hält, weiß derzeit niemand. Beim Parteitag jedenfalls erntete Walter-Borjans für seine Aussage, womöglich müsse auch die Schuldenbremse wieder in Frage gestellt werden, den mit Abstand stärksten Beifall. Das passt jedenfalls nicht zur bisherigen Linie von Stephan Weil. (kw)