„Ich habe von dieser Studie viel erwartet, aber das Gesamtbild hat mich erschüttert“, sagte Kirsten Fehrs, die amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), am Donnerstag in Hannover. „Seit ich mich mit dem Thema befasse, erschüttert mich aufrichtig diese abgründige Gewalt, die so vielen Menschen in der Kirche angetan wurde.“ In der Aula der Fakultät V der Hochschule Hannover wurde an diesem Donnerstag unter großem öffentlichen Interesse die erste umfassende Studie zu sexuellem Missbrauch in der evangelischen Kirche vorgestellt. Mehr als fünf Jahre nach der vielzitierten MHG-Studie, in der erstmals Fälle sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen durch katholische Priester in Deutschland wissenschaftlich aufgearbeitet wurden, legen nun mit der sogenannten „Forum“-Studie auch die Protestanten nach.

Prof. Martin Wazlawik überreicht die Missbrauchs-Studie an EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs. | Foto: Kleinwächter

Ein Forschungsverbund rund um Prof. Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover hat dazu seit 2020 zahlreiche Dokumente gesichtet, Akten ausgewertet, Interviews geführt und Fälle rekonstruiert. Vorausgegangen war ein Beschluss der Synode der EKD aus dem Jahr 2018. Wissen wollte man nicht bloß, was nach dem zweiten Weltkrieg alles passiert ist, sondern vor allem auch, wieso es passieren konnte und wie man es künftig verhindern kann.

„Wer nun aus allen Wolken fällt, muss die Augen in den letzten Jahren verschlossen haben.“

Dass Missbrauch kein rein katholisches Problem ist, war spätestens seit 2010 bekannt. „Wer nun aus allen Wolken fällt, muss die Augen in den letzten Jahren verschlossen haben“, sagt deshalb auch Fehrs. Was die Wissenschaftler aber herausgefunden haben, erschüttert nicht nur wegen des Ausmaßes der Fälle. Es ist auch die Analyse der Umstände, die einen solchen Missbrauch begünstigt und eine Aufklärung verhindert haben, die ganz direkt am Selbstverständnis der evangelischen Kirche kratzt. Fehrs spricht von einem „eklatanten Versagen von Kirche und Diakonie“.

Die wichtigsten Ergebnisse der rund 870 Seiten starken Studie und erste Einschätzungen im Überblick:

Die Spitze der Spitze des Eisbergs: Durch eine strukturierte Erfassung der bisher bekannten Fälle sowie durch die Sichtung von Disziplinarakten von Pfarrern sind die Wissenschaftler zu der Erkenntnis gelangt, dass es ein hohes Ausmaß sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie gebe. 1259 Beschuldigte und 2225 Betroffene konnten auf diese Weise ermittelt werden. Die Forscher bemängelten allerdings, dass ein wichtiger Teilschritt ihres Forschungsdesigns ausbleiben musste, weil es den allermeisten Landeskirchen nicht möglich gewesen sei, sämtliche Personalakten der Pastoren zu sichten. Man hatte gehofft, dadurch neue Hinweise auf Vorfälle zu erhalten, die bislang nicht als Disziplinarfälle gelistet worden waren. Durch die Komplettsichtung der Personalakten durch eine einzelne kleinere Landeskirche haben die Wissenschaftler aber bestimmen können, dass ohne diesen Schritt 57 Prozent aller Beschuldigten und mehr als 73 Prozent der Betroffenen nicht identifiziert worden wären.

Prof. Martin Wazlawik ist Koordinator des Forschungsteams. | Foto: Kleinwächter

Diese Zahlen geben einen Ausblick auf das Dunkelfeld, das es EKD-weit geben könnte. „Die evangelische Kirche und die Diakonie stehen erst am Anfang ihrer Beschäftigung mit der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt“, erklärte Prof. Wazlawik und ordnete warnend ein: „Die präsentierten Zahlen unterschätzen das Ausmaß deutlich, das ist erst die Spitze der Spitze des Eisbergs.“ Wazlawik betonte, dass die Studie keine Aussagen über einzelne Gliedkirchen der EKD mache.

Die Landeskirche Hannovers berichtete anschließend allerdings, dass sie 110 Fälle sexualisierter Gewalt mit 110 beschuldigten Personen und mindestens 140 betroffenen Personen, die zum Tatzeitpunkt minderjährig gewesen sind, gemeldet habe. Unter den 110 Beschuldigten seien 62 Pastoren. Zeitgleich aktualisierte sie ihre Meldung und erklärte, dass seit der Datenübergabe an den Forschungsverbund in der Landeskirche noch weitere zwölf Fälle bekannt geworden seien, unter den Beschuldigten sei eine Pfarrperson.

„Die Zahlen sind zweifellos wichtig: Das Narrativ, in der evangelischen Kirche gab es weniger Fälle als in der katholischen Kirche, wird sich nicht halten können.“

Es geht um mehr als Zahlen: Der schnell formulierten These, dass die Studie wenig wert sei, wenn die Zahlen nicht stimmten, widersprach eine unabhängige Betroffene deutlich. Katharina Kracht, die davon berichtete, sexualisierte Gewalt durch einen Pastor der Landeskirche erfahren zu haben, sagte zur Bedeutung der Quantifizierung: „Die Zahlen sind zweifellos wichtig: Das Narrativ, in der evangelischen Kirche gab es weniger Fälle als in der katholischen Kirche, wird sich nicht halten können.“ Sie warnte aber auch, dass diejenigen, die den Wert der Studie auf die Zahlen reduzierten, genau das täten, was Betroffene immer wieder erfahren hätten. „Unsere Stimmen verhallen. Was Betroffene sagen, ist nichts wert“, sagte sie mit zitternder Stimme.

Kracht betonte den qualitativen Teil der „Forum“-Studie, in der in mehreren Teilprojekten die Sichtweise der Betroffenen in den Fokus gerückt wurden. Nur eines von fünf Teilprojekten befasste sich mit den Fallzahlen. Die Kritik an der fehlenden Validität der Gesamtstudie wegen des schwachen Statistik-Teils weist auch die EKD-Ratsvorsitzende zurück. Dass Fehrs dabei auf Krachts Aussagen Bezug genommen hat, brachte diese allerdings zu der Richtigstellung: Ihre Aussagen sollten nicht dazu instrumentalisiert werden, zu verschleiern, dass die Landeskirchen die Aufarbeitung mitunter verhindern würden. Seitens der Wissenschaftler wurde betont, dass sie keine Verschleierung unterstellen wollen – aber eine Unfähigkeit aufseiten der Kirche, das zu liefern, was vereinbart worden sei.

Verführende Pfarrer: Zumindest die vorhandenen Erhebungen lassen die Wissenschaftler annehmen, dass bei den beschuldigten Pfarrern die weibliche Form zurecht weggelassen werden kann. Im Mittel waren die Herren 43 Jahre alt, als sie das erste Mal sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige angewendet haben. Fast die Hälfte von ihnen wurde mehr als einmal beschuldigt, diese dann im Durchschnitt fünfmal. Die aus der Diskussion um die katholischen Missbrauchsfälle geläufige Idee, dass der Zölibat eine Ursache für Missbrauch sei, lässt sich mit Blick auf die Protestanten nicht halten: Laut Studie waren über zwei Drittel der Beschuldigten verheiratet.

Auf spezielle Bereiche des kirchlichen Lebens ließen sich die Fälle offenbar nicht einschränken. Pfarrer würden im Kontext ihrer seelsorgerlichen Aufgaben, im Gemeindekontext und im Kontext der Familie zu Tätern, erläuterte Prof. Wazlawik. Das Bild und die Stellung des Pfarrers spielte ihnen dabei in die Hände, ebenso wie das Konzept des evangelischen Pfarrhauses, in dem Familie und Institution sich vermischten. Für die Protestanten, die ihre Kirche als Kirche des Wortes verstehen, sei zudem besonders herausfordernd, dass das rhetorische Geschick des Pfarrers offenbar ein Mittel zur Manipulation gewesen sein soll, sagte Prof. Wazlawik. Die These, dass insbesondere die liberalen Tendenzen Missbrauch begünstigt hätten, entkräftete er durch die Feststellung, dass Missbrauch auch in konservativen Strukturen stattgefunden habe und die politisch-gesellschaftlichen Milieus offenbar weniger bedeutend seien.



Evangelische Strukturen: Bei der Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie standen sich die Protestanten mit ihrem Selbstbild scheinbar selbst im Weg. Drei Ausreden seien immer wieder aufgetaucht: der Verweis auf die katholische Kirche (Zölibat und Machtstruktur), die gesamtgesellschaftliche Erzählung („das gibt es überall, also auch bei uns“) sowie eine Historisierung, die darauf abstellte, dass es diese Fälle früher in der Heimerziehung gegeben haben mag aber heute nicht mehr gibt. Prof. Wazlawik und sein Forschungsverbund haben zudem herausgefunden, dass die föderale Struktur der evangelischen Kirche zu einer Uneinheitlichkeit im Umgang mit solchen Vorfällen geführt habe. In einer Kirche, die stolz darauf ist, nicht hierarchisch zu sein, diffundierte die Verantwortung und wurde in Verwaltungsstrukturen delegiert.

Unter großem Medieninteresse stellt Prof. Martin Wazlawik die Studie in Hannover vor. | Foto: Kleinwächter

Aufarbeitung habe zudem nur reaktiv stattgefunden. Anstatt bei der ersten Meldung eines Vorfalls tätig zu werden und aktiv Spuren nachzugehen, habe man häufig nicht mehr getan als nötig – und oft genug nicht einmal das. Einen Beitrag zu dieser negierenden Tendenz habe auch geleistet, dass sich die Protestanten stets als progressiv gewähnt hätten, wodurch sie Missbrauch in den eigenen Reihen für unmöglich hielten. Wer Missbrauch melden wollte, sei zur Vergebung der Täter aufgerufen worden, um den Schein der Harmonie zu wahren. Wazlawik spricht von einem „Milieu der Geschwisterlichkeit“ in der evangelischen Kirche, in dem die Fähigkeit fehle, mit kritischen Fällen umzugehen.

„Wir müssen in unserer Kirche weiter an einer Kultur arbeiten, in der sexualisierte Gewalt keinen Raum hat und in der Betroffene ermutigt werden, Unterstützung in Anspruch zu nehmen.“

Was nun zu tun ist: Laut Studie wünschten sich die Betroffenen, bei der Entwicklung von Präventionskonzepten und bei der Aufarbeitung eingebunden zu werden. Strukturen zur Vernetzung sollen geschaffen werden. Die Anerkennungszahlungen für Betroffene sexualisierter Gewalt sollen höher ausfallen – und zwischen den Gliedkirchen angeglichen werden. Mitwisser aus den Gemeinden sollen neben den beschuldigten Pastoren auch zur Rechenschaft gezogen werden. Bei der Prävention sollten die Kirchen einheitliche Standards schaffen, die Durchsetzung von Präventionsrichtlinien solle zudem regelmäßig überwacht werden. Die Aktenführung sollte angeglichen werden. Die EKD sollte ein Recht auf Aufarbeitung im Kirchengesetz verankern. Abschließend bilanzierte Prof. Wazlawik, dass sein Team bei der Bearbeitung immer wieder auch auf engagierte Kirchenvertreter gestoßen sei, die ein Interesse an Aufarbeitung hätten. Insgesamt gehe es aber nicht nur um die Struktur der Kirche, sondern auch um eine Kultur, die sich nicht mit einem Beschluss ändern lasse.

Reaktion der Kirchen: „Wir haben die Studie gewollt, wir haben sie initiiert und nehmen die Ergebnisse jetzt an – in Demut“, sagte EKD-Ratsvorsitzende Fehrs. Vorschnelle Reaktionen lehnte sie derweil ab: „Wir würden die Arbeit der Forschung nicht ernst nehmen, wenn wir sofort wüssten, wie es sein muss.“ Die Empfehlungen würden jetzt im Beteiligungsforum, in dem auch Betroffene vertreten sind, diskutiert und auf der kommenden Synode beraten. Dies wünscht sich Fehrs für alle Synoden bundesweit. Hannovers Landesbischof Ralf Meister erklärte: „Wir müssen in unserer Kirche weiter an einer Kultur arbeiten, in der sexualisierte Gewalt keinen Raum hat und in der Betroffene ermutigt werden, Unterstützung in Anspruch zu nehmen.“ Kristin Jahn, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags, erklärte: „Eine Kirche, in der Menschen nicht sicher sind, verfehlt ihre Aufgabe und hat keine Zukunft.“ Der Kirchentag als unabhängige Bewegung sei zwar nicht Teil der Studie gewesen. Man wisse aber um Parallelen und werde alle Empfehlungen der Studie gleichsam umsetzen.