Landtagspräsidentin Gabriele Andretta gilt als Befürworterin einer großen Wahlrechtsreform: Mit einer Paritätsregel soll erreicht werden, dass mehr Frauen als Abgeordnete für die Parlamente in Bund, Ländern und Kommunen gewonnen werden. Im Interview mit dem Politikjournal Rundblick erläutert die SPD-Politikerin ihre Position.

Rundblick: Ohne Grundgesetzänderung wird ein Paritätsgesetz, das etwa die gleichen Geschlechteranteile für Männer und Frauen auf den Landeslisten der Parteien vorschreibt, nicht gehen, oder?

Andretta: Warten wir es mal ab. In Brandenburg ist ein Gesetz beschlossen worden, das für die Landeslisten der Parteien immer abwechselnd eine weibliche und einen männlichen Bewerber vorsieht. Eine Landes-Verfassungsbeschwerde dagegen haben die Jungen Liberalen schon angekündigt. Mit der Zulässigkeit einer Paritätsregel im Wahlrecht werden sich dann die Verfassungsrichter in Karlsruhe auseinandersetzen. Dem sehe ich gelassen entgegen.

Rundblick: Sehen Sie einen Verstoß gegen die freie Meinungsbildung der Parteien und gegen die Freiheit der Wahl?

Andretta: Die Richter müssen abwägen, ob der Gleichstellungsauftrag im Grundgesetz den Eingriff in die Parteienfreiheit und die Freiheit der Wahl rechtfertigt. In Artikel 3 Absatz 2 steht ausdrücklich: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ In unserer Landesverfassung steht der Satz: „Die Achtung der Grundrechte, insbesondere die Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, ist eine ständige Aufgabe des Landes, der Gemeinden und Landkreise.“ Aus diesen Formulierungen in beiden Verfassungen folgt ein Auftrag an die Politik dafür Sorge zu tragen, dass Frauen und Männer die gleichen Chancen haben, in ein politisches Amt gewählt zu werden. Dies kann auch eine Paritätsregelung umfassen. Es ist dann Aufgabe von Verfassungsrichtern, im Zweifel die Verfassungsbestimmungen gegeneinander abzuwiegen und zu gewichten.

Rundblick: Ein deutlicher Appell, mehr Frauen zu nominieren, reicht nicht?

Andretta: Nein. Das haben wir übrigens in Baden-Württemberg gesehen. Dort hatte die Landtagsmehrheit vor Jahren eine solche Aufforderung beschlossen. Die Wirkung verpuffte. Derzeit haben wir nun eine besondere Situation. Auf der einen Seite ist der Frauenanteil in vielen Parlamenten, auch im niedersächsischen Landtag, nach einem deutlichen Anstieg in den neunziger Jahren wieder zurückgegangen. Auf der anderen Seite hat der 100. Jahrestag des Frauenwahlrechts, den wir dieses Jahr begehen, der Debatte neuen Schwung verliehen. In Frankreich gibt es ein Paritätsgesetz seit 2000, in vielen anderen europäischen Ländern gibt es auch entsprechende Regeln. In Deutschland findet die Forderung „mehr Frauen in die Parlamente“ prominente Unterstützung: Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer bei der CDU denken ähnlich darüber wie Andrea Nahles und Katharina Barley von der SPD. Das finde ich spannend.


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Rundblick: Sind Sie denn für den radikalen Weg, also auch eine Pflicht zu Tandem-Wahlkreisen, also je zwei Wahlkreisabgeordneten (Mann und Frau)?

Andretta: Welcher Weg genau beschritten werden wird, wird die Diskussion zeigen. Die Wahlkreise in ihrer Anzahl zu halbieren und ihrer Fläche zu verdoppeln, wie es eine nötige Folge von Tandem-Lösungen wäre, hielte ich in einem Flächenland wie Niedersachsen nicht für richtig. Wir haben jetzt schon sehr großflächige Wahlkreise in ländlichen Gegenden, da wäre eine Vergrößerung der falsche Weg. Es geht mir auch sehr stark darum, nicht nur von rechtlichen oder technischen Fragen zu sprechen, sondern von politischen.

Die Gleichstellung ist ein Verfassungsauftrag – es zählen Taten, nicht nur Worte. Und: Gemeinsam können die Frauen viel erreichen!

Rundblick: Welche wären das?

Andretta: Die Politik in Deutschland – auch in Niedersachsen – ist zu sehr männlich dominiert. Damit meine ich nicht nur männliche Seilschaften und „Männerfreundschaften“, das Gekungel in Hinterzimmern. Wir haben auch viele Rituale, die auf viele Frauen, aber auch auf viele junge Leute abschreckend wirken. Da sind die ausgedehnten Sitzungen und Parteitage an Wochenenden und in den späten Abendstunden – vornehmlich dann, wenn die Kinderbetreuung, die immer noch vor allem Frauensache ist, notwendig ist. Bei der Kandidatenauswahl haben die Amtsinhaber in der Praxis einen häufig nicht gerechtfertigten Bonus. Frauen kommen meist nur zum Zuge, wenn Wahlkreise nicht so begehrt sind oder langgediente Politiker aufhören. Die Präsenzkultur in der Politik – man muss ständig auf vielen Terminen sein, um gesehen zu werden – verlangt oft einen hundertprozentigen zeitlichen Einsatz, den viele, vor allem Frauen, nicht geben können oder auch wollen. Hier kann man vieles ändern, auch der Einsatz neuer Medien – etwa Video-Konferenzen – bietet Chancen.

Rundblick: Wie lautet Ihr Rat an die Große Koalition?

Andretta: Meine Botschaft richtet sich an alle politischen Kräfte: Die Gleichstellung ist ein Verfassungsauftrag – es zählen Taten, nicht nur Worte. Und: Gemeinsam können die Frauen viel erreichen!