Wenn sich der Abgeordnete Jens Nacke (CDU) im Plenum des niedersächsischen Landtags zu einem kultuspolitischen Thema zu Wort meldet, ahnt man sofort, dass es im Folgenden weniger um die abstrakte Bildungspolitik, sondern um ein ganz spezielles Ereignis gehen muss. Der Fall der Grundschule Wiefelstede, die aufgrund akuten Lehrermangels kürzlich Alarm geschlagen hatte, betrifft den Landtagsvizepräsidenten Nacke nämlich ganz konkret.

Der CDU-Landtagsabgeordnete Jens Nacke kritisiert die Kultusministerin. | Foto: Niklas Kleinwächter

„Sie wundern sich, dass ich zu diesem Thema rede, weil ich doch gar kein Schulpolitiker bin“, sagte Nacke gleich zu Beginn der von der CDU-Fraktion beantragten „aktuellen Stunde“ am Donnerstag und lieferte die Auflösung umgehend mit: „Die Grundschule Wiefelstede liegt fünf Minuten von meiner Wohnungstür entfernt, meine Kinder sind auf diese Schule gegangen“, sagte er und führte aus, dass er, unmittelbar nachdem die Schulleitung die Elternschaft über ihre Notlage unterrichtet hatte, zahlreiche Sprachnachrichten von besorgten Bürgern erhalten habe. „Da wird eine abstrakte Zahl richtig real und es wird offenbar, dass wir in Niedersachsen ein Allzeittief in der Unterrichtsversorgung haben.“ 

Der Fall aus Wiefelstede (Kreis Ammerland) sorgte vergangene Woche bundesweit für Schlagzeilen, weil im Raum stand, die Schulleitung wechsle eigenmächtig in eine Vier-Tage-Woche – was eine verkürzte Darstellung der Sachlage ist. Richtig ist allerdings, dass die Schulleitung aufgrund einer erkrankten und zwei schwangeren Lehrkräften sich nicht mehr im Stande sah, jede Schulklasse in gewohnter Form beschulen zu können und sich deshalb genötigt sah, unter anderem einzelnen Klassen Aufgaben für Zuhause mitzugeben. In Folge des Aufruhrs reagierte die Kultusverwaltung: Zwei Teilzeitkräfte einer benachbarten Oberschule stocken nun ihre Stunden vorrübergehend auf und helfen an der Grundschule aus, es werden zusätzliche pädagogische Mitarbeiter eingestellt und eine Feuerwehrlehrkraft gesucht.

„Man hangelt sich durch, das ist keine dauerhafte Lösung.“

Für Nacke ist das aber nicht ausreichend. „Man hangelt sich durch, das ist keine dauerhafte Lösung“, sagte er am Donnerstag im Landtag und appellierte an Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Kultusministerin Julia Hamburg (Grüne): „Sie sind gefordert. Nicht irgendwann, sondern jetzt.“ Er fordert eine Ausweitung der Arbeitszeiten für die Lehrer, weniger Bürokratie bei der Weiterbeschäftigung pensionierter Lehrer, ein „vernünftiges Programm“ für Quereinsteiger, Erleichterungen bei der Beschäftigung von ukrainischen Pädagogen, „kreative Lösungen“ gegen Frühpensionierungen und eine Entlastung der Lehrer von zusätzlichen Aufgaben, um die Schule als Arbeitsort attraktiver zu machen.

Julia Hamburg fühlt sich von der CDU als Person angegriffen. | Foto: Niklas Kleinwächter

Aufseiten der Regierungskoalition hält man das Thema der „aktuellen Stunde“ der CDU-Fraktion derweil für unnötig – schließlich werde bereits gehandelt. Thore Güldner (SPD) erklärte zwar, den Fall aus dem Ammerland müsse man als Weckruf verstehen, und er äußerte seinen Dank dafür, dass „in dem Einzelfall schnell Abhilfe geleistet werden konnte“. Allerdings habe die Landesregierung bereits einen konstruktiven Weg eingeschlagen, den mitzugehen die CDU „ein Stück weit verpasst“ habe. Zur Statistik der Unterrichtsversorgung fügte er an, dass zu Zeiten CDU-geführter Regierungen Dinge wie Inklusion und Ganztag noch nicht in die Berechnung eingeflossen seien, weshalb man die Zahlen nicht vergleichen könne.

Pascal Mennen (Grüne) zeigte gar kein Verständnis dafür, dass die CDU die Kultusdebatte überhaupt im Parlament führen wollte. „Sie wärmen eine Debatte auf, die wir alle letzte Woche geführt haben und die abgeräumt ist“, sagte er und fügte selbstbewusst an: „Sie schauen einfach gerne in den Rückspiegel, ich bevorzuge die Klarsicht nach vorne.“ Dabei habe er gesehen, dass an Niedersachsens Schulen nie zuvor so viele Lehrer beschäftigt gewesen seien wie derzeit – allerdings habe man im vergangenen Jahr nun einmal 20.000 ukrainische Schüler zusätzlich aufnehmen müssen.

Kultusministerin verweist auf geplanten Kongress

Kultusministerin Hamburg sieht in der Themensetzung und im Vorgehen der CDU einen versuchten Angriff auf ihre Person. „Sie nehmen einen Sachverhalt, der verzerrt und pointiert wird, womit versucht wird, auf mich zu zielen. In Wirklichkeit zielen sie aber auf eine Schule, die in den vergangenen Jahren versucht hat, Verlässlichkeit zu gewährleisten“, sagte sie und bezeichnete Nackes Agieren als „fragwürdig“. Die Ministerin wiederholte, dass sie derzeit die Maßnahmen des Lehrkräftegewinnungspakets ihres Vorgängers überprüfen lasse und im März auf einem großen Kongress in Hannover mit Fachleuten und Lehrerverbänden nach gemeinsamen Lösungen suchen wolle, denn „was nützt es, wenn das Kultusministerium Maßnahmen vorgibt, die von den Kollegen nicht als entlastend wahrgenommen werden?“ Zum konkreten Fall aus dem Ammerland sagte Hamburg, es habe sich bei der Schule keineswegs um ein kultuspolitisches Sorgenkind gehandelt, denn die statistische Unterrichtsversorgung habe noch zum Stichtag, welcher der 8. September 2022 war, bei über 100 Prozent gelegen. „Krankheiten und Schwangerschaftsausfälle sind eine Riesen-Herausforderung. Es geht hier um befristete Notmaßnahmen“, sagte sie.



Dass es sich um eine Notmaßnahme handele, sieht Harm Rykena (AfD) gänzlich anders. Weil die Kultusverwaltung die getroffenen Schritte als „Plan-B-Maßnahmen“ bezeichne, meint er: „Das ist keine Ausnahme, sondern Ausdruck von Normalität.“ Der AfD-Politiker fordert von der Landesregierung „konkrete und schnell wirksame Maßnahmen“, wie die Bekämpfung des Lehrermangels und Entlastung der Lehrkräfte, eine Konzentration auf die Hauptfächer, eine Entlastung der Schulen von sogenannten „Umerziehungsmaßnahmen“ (ein Begriff, den Landtagspräsidentin Hanna Naber bereits als „unparlamentarisch“ wertete) und die ersatzlose Streichung aller Zusatzaufgaben. Kultusministerin Hamburg reagierte auf die Ausführungen der AfD mit dem Hinweis, dass es in Niedersachsen also keine Ganztagsschulen mehr gäbe, wenn die AfD etwas zu sagen hätte.