Von Volker Schmidt

„Stetigkeit in der Politik erfordert das Wissen um Ziele: Wohin wollen wir, und wie kommen wir dahin? Welche Möglichkeiten sind der Politik gegeben? Welche Mosaiksteine müssen nach welchem Muster den Rahmen füllen, damit ein Bild der Zukunft und ihrer Chancen daraus wird?“ Wolfgang Schäuble umschrieb damit in seinem 1998 erschienenen Bestseller „Und sie bewegt sich doch“ die Aufgabenstellung von Politik an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Er war zu diesem Zeitpunkt im siebten Jahr einflussreicher Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Nicht wenige sahen in ihm den Schrittmacher und Vordenker der damaligen Bundesregierung von Union und FDP.

Wolfgang Schäuble verstarb am 26. Dezember 2023 im Alter von 81 Jahren. | Foto: Bundesfinanzministerium/Photothek

Helmut Kohl hatte ihn wenige Monate zuvor als seinen natürlichen Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers bezeichnet – eine Titulierung, die Schäuble überhaupt nicht gefiel, auch weil die Demokratie Kronprinzen nicht kennt. Das Verhältnis zu Kohl hatte schon 1997 Risse bekommen. Der Eindruck von Reformstau beherrschte das Land, eine politische Wechselstimmung nach 16 Jahren Helmut Kohl war allenthalben spürbar, und Gerhard Schröder bediente dieses Gefühl. Gleichwohl war Wolfgang Schäuble in den Umfragen seinerzeit der mit Abstand populärste Politiker, freilich ohne dass dies im Kanzleramt als Gewinn verstanden, geschweige denn genutzt wurde. Das Gegenteil traf zu: Das unter Schäubles Federführung im Frühjahr 1998 verfasste Zukunftsprogramm der CDU als Grundlage künftiger Regierungsarbeit wurde durch gezielte Indiskretionen soweit beschädigt, dass infolge wochenlanger Streitereien die Inhalte in den Hintergrund gerieten und dadurch die erhoffte Wirkung ausblieb. Dabei konnte man das Zukunftsprogramm durchaus als großen Wurf bezeichnen, es gilt vielen noch heute als überaus ambitioniertes Programm. Denn es folgte dem Anspruch Schäubles: Die moderne Wirklichkeit und die immensen Veränderungen klar und schnörkellos zu umreißen und den sich daraus ableitenden Reformbedarf konkret zu erläutern im Rahmen dessen, was Politik ehrlicherweise leisten kann – und was eben nicht.

Volker Schmidt über Wolfgang Schäuble: Für viele seiner ehemaligen Mitarbeiter sei Schäuble auch Jahre später noch immer „der Chef“ geblieben. | Foto: privat

Loyalität war für Wolfgang Schäuble keine Einbahnstraße. Dies galt im Verhältnis zu politischen Weggefährten, dies galt auch im Verhältnis zu seinen Mitarbeitern. Konnten manche Papiere aus Schäubles Stab auch noch so umstritten sein: Hatte man seine Zustimmung, verteidigte er sie in den Gremien und den Verfasser nötigenfalls gleich mit. Wenn der routinemäßige Jour Fixe mit Wolfgang Schäuble auch Disziplin und hohe Präzision abverlangte und abendliche Runden mitunter bis nach Mitternacht gingen, man arbeitete einfach mit großem Enthusiasmus für ihn. Wolfgang Schäuble konnte trotz aller Härte gegen sich selbst ein zutiefst emphatischer Patron sein. Familiäre Schicksalsschläge bei seinen Mitarbeitern ließen Wolfgang Schäuble nicht ungerührt. So ist er für viele seiner ehemaligen Mitarbeiter auch Jahre später noch immer „der Chef“ geblieben, und regelmäßige Treffen mit ihm waren wie ein „nach Hause kommen“.

Die Einheit von Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik war die Leitlinie seines Denkens und Handelns.

Wolfgang Schäuble, der zu Beginn der 60er Jahre neben Jura auch Volkswirtschaft in Hamburg studiert hatte, was nur wenige wissen, war ein überzeugter Anhänger Ludwig Erhards. Maß und Mitte halten, das wurde auch zu seinem Credo. Die Abkehr vom staatsinterventionistischen Keynesianismus zu mehr Markt und Effizienz in den 70er Jahren prägte seine wirtschaftspolitischen Überzeugungen. Die Begrenzung der Staatsquote auf deutlich unter 50 Prozent, die Rückführung von Steuer- und Abgabenquote – das waren für ihn nicht x-beliebige Indikatoren. Er trat dafür ein, weil hohe Steuern und Sozialabgaben und steigende Finanzierungslasten der öffentlichen Hand stets kontraproduktiv auf Motivation und Leistungsbereitschaft wirken, ohne die eine freiheitliche Gesellschaft aber weder ökonomisch noch politisch auskommen kann. Es war diese Einheit von Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Leitlinie seines Denkens und Handelns auch als Bundesfinanzminister war. Mit dem ersten ausgeglichenen Bundeshaushalt seit 1969 stand er wie kein anderer für finanzpolitische Solidität.

Währungsstabilität war für Wolfgang Schäuble kein Fetisch, sondern materialisiertes Vertrauen. | Foto: Herzig

Die Rückbesinnung darauf, dass das Sozialstaatsprinzip auf zwei Säulen beruht, neben der Solidarität eben auch der Subsidiarität, der Hilfe zur Selbsthilfe, hat er stets mit Leidenschaft angemahnt. Die vorbehaltlose Gewährung des sogenannten „Bürgergeldes“ stieß auf seine Kritik. Für den Satz von Bundeskanzler Scholz „you‘ll never walk alone“ brachte er wenig Verständnis auf, weil damit eine finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates insinuiert werde, die dieser am Ende nicht garantieren kann. Stabilitätspolitik war für Wolfgang Schäuble kein leerer Begriff. In seinem Verständnis war sie die nachhaltigste Form von Sozialpolitik, weil hohe Inflationsraten erfahrungsgemäß immer zu Lasten der sozial Schwachen gehen. Seine absolute Kompromisslosigkeit in Fragen der Währungsstabilität ließ ihn anfangs nicht gerade zum glühendsten Befürworter des Euro werden. Der Vertrag von Maastricht war in seinen Augen kein Meisterwerk. Erst mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt von Dublin Ende 1996 sah Schäuble seine Vorbehalte weitgehend ausgeräumt. Die Schaffung eines stabilen Euro, der der Stabilität der D-Mark nicht nachstand, war für ihn kein Fetisch. Währungsstabilität, das war für Wolfgang Schäuble materialisiertes Vertrauen. Im Rückblick erklärt dies einmal mehr seine konsequente Haltung gegenüber Griechenland auf dem Höhepunkt der Euro-Krise 2015.

Wolfgang Schäuble mit Volker Schmidt und Ursula von der Leyen. | Foto: Tim Schaarschmidt / Niedersachsen-Metall

Viele Stränge ziehen sich durch dieses Politikerleben. „Scheitert der Westen?“ Diese Frage verarbeitete er 2003 als Chef-Außenpolitiker der Unionsfraktion in einem aufsehenerregenden Buch unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 und zunehmender Globalisierungsängste in den westlichen Gesellschaften. Wachsende Sorgen um die Stabilität des transatlantischen Verhältnisses beschäftigten ihn noch in seinem letzten großen Interview, das er kurz vor Weihnachten gab. Als Bundesinnenminister eröffnete Wolfgang Schäuble 2006 mit der Islamkonferenz den ersten institutionalisierten Dialog zwischen dem Staat und den in Deutschland lebenden Muslimen. Er eröffnete die Konferenz mit der nüchternen Feststellung, dass der Islam angesichts von seinerzeit 3,5 Millionen in Deutschland lebenden Muslimen mittlerweile ein Teil Deutschlands und Europas geworden ist, verband dies allerdings sogleich und unmissverständlich mit der Aussage, dass die Grundregeln des Zusammenlebens nur auf der Basis der deutschen Rechts- und Werteordnung gefunden werden können. „Das Grundgesetz ist nicht verhandelbar“, so formulierte er es am Tag nach der Konferenz im Bundestag unter dem Beifall fast aller Fraktionen.

Schwarz-Weiß-Malerei war seine Sache nicht, die Kunst der Differenzierung war seine Domäne.

Dass Wohlstand auch „Plage“ sein kann, sich gefährlich leicht mit Zukunftsangst verbindet und die Bereitschaft zu Veränderungen zumal in einer älter werdenden Gesellschaft lähmt, darin sah Wolfgang Schäuble bis zuletzt das größte Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland. „Wer viel hat, hat viel zu verlieren. Also wachsen die Beharrungskräfte gegen jede Veränderung.“ Ein ökonomisches Gesetz, das den einmal erreichten Wohlstand für alle Zeiten garantiert, gibt es nicht. Aktuelle Debatten um weitere Arbeitszeitverkürzungen erschienen ihm nicht von dieser Welt. Nationale Alleingänge in der Energiepolitik lehnte er ab – der Zusammenhang zwischen stabiler Energieversorgung und internationaler Wettbewerbsfähigkeit war für ihn unauflösbar.

Wolfgang Schäuble hatte einen klaren politischen Kompass. Verwurzelt im Protestantismus war die Politik seine Bestimmung. Die Ortenau, seine badische Heimat, war sein Zuhause, seine Familie das Kraftzentrum. Kaum etwas konnte ihn aus der Ruhe bringen. Hysterie war ihm ein Gräuel, Eitelkeiten waren ihm fremd. Wolfgang Schäuble war ein geschliffener Debattenredner, ein Vordenker mit hohen analytischen Gaben, Schwarz-Weiß-Malerei war seine Sache nicht, die Kunst der Differenzierung war seine Domäne. Wolfgang Schäuble spielte in einer eigenen Liga. Seilschaften in Partei und Fraktion benötigte er nicht, er bestach durch seinen Intellekt. Gleichwohl liegt eine große Tragik über seinem Leben, das Attentat eines geistig Verwirrten wenige Tage nach der wiedererlangten Einheit 1990, deren Architekt er war. Sodann Kohl und Merkel, die sich seiner überragenden Fähigkeiten bedienten, aber die ihn auf ganz unterschiedliche Weise wohl als zu mächtig empfanden. 52 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages, Chef des Kanzleramtes, Partei- und Fraktionsvorsitzender, Bundesinnenminister, Bundesfinanzminister, Bundestagspräsident. Es gibt in der bundesdeutschen Geschichte keinen anderen, der so dauerhaft gewirkt hat, ohne das Amt des Kanzlers erreicht zu haben. Es bleibt mehr als die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Politiker und Staatsmann.

Volker Schmidt, Herausgeber des Politikjournals Rundblick, war von 1994 bis 2000 Mitarbeiter des damaligen Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble.