Als das niedersächsische Landvolk vor 75 Jahren gegründet wurde, lag Hannover, wie große Teile der deutschen Städte, in Trümmern. Der Beethovensaal des Kongresszentrums, in dem man sich damals versammelt hatte, war nicht beheizt und hatte nicht einmal ein Dach. Mit Wolldecken und Rübenschnaps habe man sich gewärmt, erinnerte sich noch Jahre später Edmund Rehwinkel, der Gründungsvorsitzende des Verbandes.

75 Jahre später ist der Landesbauernverband, wie sich das Landvolk inzwischen in einer Unterzeile auch nennt, an eben jenen Ort seiner Gründung zurückgekehrt. Der Saal, der mittlerweile nach Leibniz benannt wurde, hat ein Dach, ist beheizt und wird zudem noch in warmen Farben beleuchtet. „Es geht uns gut, es geht auch den Landwirten gut“, sagt der heutige Landvolk-Präsident Holger Hennies, nachdem er Rehwinkels Beschreibung der damaligen Situation zitiert hat. Im Vergleich zu damals ist alles in Ordnung.

Viel Ehr für 75 Jahre Landvolk. | Foto: Landvolk Niedersachsen

Ist heute aber wirklich alles in bester Ordnung auf dem Feld und im Stall? Bauern, die nichts zu beklagen haben? Nein, so ist es nicht und so ist es auch nicht gemeint. Der Blick nach hinten lässt das Klagen von heute allerdings in einem anderen Licht erscheinen. Und doch: Zum ersten Mal spüre man wieder ernstzunehmende Existenzängste, sagt der Landvolk-Präsident angesichts der Entbehrungen in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Freilich befindet man sich in Niedersachsen am besseren Ende, doch besonders die Landwirtschaft leidet unter steigenden Energiekosten und fehlenden Düngemitteln.

Zudem steht die Landwirtschaft vor großen Veränderungen, weshalb sie den Schulterschluss sucht mit der rot-grünen Landesregierung aber auch mit ihren neuen Verbündeten, den Naturschutzorganisationen Nabu und BUND, die Partner im „Niedersächsischen Weg“ sind. Deren Landesvorsitzende Holger Buschmann und Susanne Gerstner sind als Zeichen der Verbundenheit deshalb auch zur 75-Jahr-Feier des Bauernverbands erschienen.

Ein weiteres Zeichen setzt zudem die Landesregierung, die gleich mit drei Vertretern an dem Festakt teilnimmt. Neben Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Agrarministerin Miriam Staudte (Grüne) ist nämlich auch Umweltminister Christian Meyer (Grüne) zugegen, obwohl er, als einziger, kein Grußwort zu sprechen hat. Vielleicht wollte er seiner Parteifreundin Rückendeckung geben, vielleicht wollte die Regierung auch nur eine besondere Wertschätzung für das Landvolk zum Ausdruck bringen. Oder aber, und diese Möglichkeit deckt sich mit den Reden der Regierungsmitglieder, man will deutlich machen, dass Agrarpolitik in Niedersachsen untrennbar mit der Umwelt- und Klimapolitik verbunden sein soll.

Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) betont die Bedeutung der Landwirtschaft und bekennt, selbst „kein ausgewiesener Experte der Landwirtschaft“ zu sein. | Foto: Landvolk Niedersachsen

Zunächst aber bemüht sich der Ministerpräsident, der sich selbst als „kein ausgewiesener Experte der Landwirtschaft“ bezeichnet, die Wichtigkeit dieser Branche für das Land zu betonen. „Die Landwirtschaft ist unverändert ein Bereich, der für unsere Gesellschaft in seiner Entwicklung für uns von größter Bedeutung ist“, sagt er und äußert sich anerkennend über die rasante Veränderung, die die Landwirtschaft in den vergangenen 75 Jahren durchgemacht habe. Dabei sei nicht alles gut gewesen, bekennt Weil und beschreibt, wie die Produktionssteigerungen und der Wettbewerb auf dem internationalen Markt den Mechanismus „wachse oder weiche“ befördert und die dörflichen Strukturen massiv verändert habe. Das bereite ihm Sorgen, so Weil.



Doch der Ministerpräsident will nicht nur zurückblicken. Er wirft deshalb die Frage auf, in welche Richtung es gehen soll mit der Landwirtschaft in dieser Gesellschaft. In dieser Hinsicht sei früher vieles einfacher gewesen. Damals, als das Landvolk gegründet wurde, habe ein Großteil der Niedersachsen im ländlichen Raum gelebt und sich als Teil der agrarischen Gesellschaft verstanden. Inzwischen habe sich das geändert und die Landwirtschaft befinde sich in einer Zwickmühle. Wie soll die Branche da heraus kommen? Weil gibt drei Antworten: Erstens werde man das nur gemeinsam schaffen. Zweitens brauche man die Bereitschaft zur Veränderung. Und drittens gelinge die Veränderung nur mit Planungssicherheit. Um diese herzustellen, brauche man „keine runden Tische und Stuhlkreise, sondern klare Vereinbarungen, die für alle verbindlich sind“, sagt Weil. Außerdem müsse es dabei um Geld gehen, denn wenn Landwirte Leistungen von öffentlichem Interesse erbringen, müsse man diese auch bezahlen.

Viel konkreter wird der Ministerpräsident derweil nicht, verweist auf den Bundesrat und auf Brüssel. Aber er gibt zumindest eine Vision aus, an deren Umsetzung die Landesregierung nun arbeiten will. Er sagt: „Wir haben das Potenzial, dass Niedersachsen ein modernes, natur- und umweltverträgliches und wirtschaftlich erfolgreiches Agrarland wird und dass die nächste Generation gerne die Betriebe übernehmen will. Das muss das Ziel sein, denn es geht auch um die ländliche Struktur.“ So weit die Leitplanken des Regierungschefs, die konkreten Ausführungen will Weil dann seiner neuen Agrarministerin, die gerade 22 Tage im Amt ist, überlassen.

Kein Heimspiel für die neue Agrarministerin Miriam Staudte (Grüne) | Foto: Landvolk Niedersachsen

Dass ein Auftritt vorm niedersächsischen Landvolk kein Heimspiel für Miriam Staudte ist, merkt man ihr schnell an. Sie wirkt nervös und lässt sich überraschend schnell in die Defensive bringen. Aber die Ministerin versucht es auch mit etwas Weitsicht, sie soll nicht zurückblicken, wie viele ihre Vorredner an diesem Tag, sondern in die Zukunft schauen. Wie also geht es in den nächsten 75 Jahren weiter? Es gebe viele Themen, die jetzt ganz intensiv bearbeitet werden müssten, sagt Staudte und zählt die Transformation der Tierhalten, Artenschutz, faire Preise, Auskömmlichkeit für die Betriebe, Antibiotika, Zoonosen und Tierseuchen auf. Mehr als die Hälfte dieser Themen steht bei den meisten Gästen im Saal vermutlich nicht allzu weit oben auf der Agenda.


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Aber dann geht Staudte noch einen Schritt weiter und sagt, in 75 Jahren gebe es wohl nur ein vorrangiges Thema, nämlich den Klimawandel, und wenn man dann zurückblicken werde auf die heutige Zeit, werde man sich fragen, was die Menschen damals eigentlich getan haben. Eigentlich erwartet man an dieser Stelle nun einen Maßnahmenkatalog, den die Ministerin aufzählt. Doch was kommt, ist ein überraschendes Geständnis. „Diese großen Herausforderungen flößen mir Respekt ein“, sagt Staudte und flüchtet sich auf die Meta-Ebene: „Ich wollte eigentlich nicht ‚Herausforderung‘ sagen. Das rutscht einem so raus im Politikbetrieb, wenn man nicht von ‚Problem‘ reden will“, erklärt sie sich selbst und schiebt nach: „Aber mit dem Klimawandel haben wir ein Riesenproblem!“



Spätestens an dieser Stelle erwartet man nun Mutmachendes von der neuen Ministerin. Doch die Beschreibung der düsteren Zukunft geht weiter: „Wir haben schon einen Temperaturanstieg, und dann kommen die Kipppunkte. Gerade Sie, die Sie in der Landwirtschaft tätig sind, merken das schon heute“, sagt Staudte und variiert ihr Bangen: „Ich habe großen Respekt vor dieser Aufgabe, die richtigen Weichen zu stellen – mit ihnen zusammen. Man wird in Zukunft sagen: Wir haben nicht nur eine Verantwortung gehabt, sondern eine historische Verantwortung. Deshalb müssen wir jetzt die Weichen stellen, damit wir nicht eine Welt haben, die von Dürren, Waldbränden, Moorbränden und Missernten gekennzeichnet ist.“

Das immerhin bleibt als Botschaft hängen: Die Agrarministerin setzt auf die Landwirte und auf das Landvolk als berufsständische Vertretung. „Was ich am Landvolk schätze, ist, dass Sie ein echtes Gegenüber sind, dass man mit ihnen diskutieren kann und programmatisch arbeiten kann“, lobt die Ministerin gegen Ende ihrer Rede. Wie sie das meint, wird erst durch eine weitere Ausführung deutlich. Denn sie spricht einen „Kulturkampf“ an, den sie in den sozialen Medien erlebe. Es gebe dort „diese unterschwelligen Debatten, die gar nicht unbedingt die Gesamtgesellschaft mitkriegt“, von denen sie aber glaube, dass „eine riesengroße Gefahr“ von ihnen ausgehe. Hier wird deutlich, dass Niedersachsens neuer Agrarministerin offenbar sehr bewusst ist, dass sie es mit ihrer Klima-Agrarpolitik in den nächsten fünf Jahren nicht immer leicht haben wird im ländlichen Raum. Und dass sie das Landvolk braucht, wenn sie dort etwas bewegen möchte. 75 Jahre nach seiner Gründung steht der Landvolk-Verband nicht mehr in einem Trümmerhaufen. Aber die Aufgaben, die vor den Landwirten liegen, erscheinen nicht weniger groß.